Colin Crouch ist der führende intellektuelle Kritiker des Neoliberalismus. Seine Thesen - der entfesselte Turbokapitalismus setzt die Demokratie außer Kraft ("Postdemokratie", 2004), die Finanzkrise hat den Turbokapitalismus nicht zerstört, sondern noch stärker gemacht ("Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus", 2011) - finden großen Anklang bei Globalisierungs- und Kapitalismuskritikern. Dabei fällt etwas unter den Tisch, dass Crouch den Kapitalismus nicht per se verurteilt ("Immer noch die beste Methode, Wohlstand zu schaffen"), sondern "nur" eine gewachsene Machtstruktur, in der der Kapitalismus "dem Rest der Gesellschaft Bedingungen stellen" kann.

Colin Crouch war am Montag in Wien, um sein neues Buch "Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit", erschienen im Passagen-Verlag, Wien (Auszug siehe unterhalb), vorzustellen und mit Unterrichtsministerin Claudia Schmied zu diskutieren. Im Video-Interview mit Hans Rauscher sprach er über den Neoliberalimus in Österreich (den es nur in Spurenelementen gibt) und über seine neue These, dass nur eine - reformierte - Sozialdemokratie den Neoliberalismus zügeln könne.

"Österreichs Gewerkschaften haben eine zu hohe Bedeutung für die Gesellschaft, um eigennützlich zu handeln"

 

Rot-Grün als Chance für die Sozialdemokratie

 

"Eigentlich haben wir keine freien Märkte": Crouchs Probleme mit dem Neoliberalismus


Auch Märkte brauchen Vertrauen

Auszug aus dem neuen Buch "Jenseits des Neoliberalismus" von Colin Crouch

Die Finanzkrise ist auch eine Vertrauenskrise: Ein Paradigmenwechsel in der globalen Ordnung der Wirtschaft hat dies erst möglich gemacht.

Beginnen wir mit dem Vertrauen. In traditionellen Gesellschaften, zu welchen die moderne Marktwirtschaft noch nicht vorgedrungen ist, basieren Handelsverträge auf gegenseitigem Vertrauen: Ich schließe mit dir Geschäfte ab, entweder weil ich aufgrund früherer Erfahrungen glaube, mich auf dich verlassen zu können, oder weil ich zuversichtlich bin, dass du in deiner Gemeinschaft einen schlechten Ruf haben wirst, wenn du dich nicht an die Abmachung hältst. Ein risikoreiches Geschäft, in dem die Mittel zur Durchsetzung nicht ausgereift sind und es schwierig ist, Geschäfte mit Unbekannten abzuschließen, worauf die Marktwirtschaft der Industrieländer aber angewiesen ist.

Der Markt verändert diese Situation. Deals werden abgeschlossen, möglicherweise unter völligen Fremden, vorausgesetzt, man glaubt an das Funktionieren des Marktes. Vorausgesetzt, man glaubt daran, dass unseriöse, inkompetente und unehrli- che Akteure durch den Wettbewerbsprozess vom Markt vertrieben werden und dass, falls dies nicht funktioniert, ein wirksames Vertragsrecht zum Greifen kommt (oder angemessene private Mittel zur Konfliktlösung), so braucht man weder an die persönliche Redlichkeit oder Kompetenz der Person, mit der man Geschäfte macht, zu glauben, noch davon überhaupt zu wissen.

Das Wachstum des Marktes bringt daher üblicherweise ein immer anspruchsvolleres Vertragsrecht mit sich. Dies ist eine beträchtliche Verbesserung im Vergleich zum System der auf Vertrauen basierenden Vereinbarungen und ein wichtiges Beispiel dafür, wie sich die durch Marktmechanismen hervorgerufene Zerschlagung traditionell gesellschaftlicher Institutionen als Vorteil herausstellt. Aber es gibt auch Nachteile. Das Vertragsrecht birgt sehr hohe Transaktionskosten, besonders für Rechtsorgane bei der Vollstreckung. Wichtiger für einen Zugang nach den Theorien des Wirtschafts- und Sozialwissenschafters Karl Paul Polanyi ist, dass der Ersatz von Vertrauen durch einen Vertrag zur Zerstörung jener Einrichtungen führt, die den Vertrauensansatz unterstützt haben. Vertrauen wird unnötig und wird daher weder gepflegt noch wertgeschätzt; die Mechanismen, die Vertrauen unterstützt haben, werden vernachlässigt. Wir Menschen sind immer mehr der Ansicht, dass wir einander nicht vertrauen können und uns verstärkt auf Verträge verlassen müssen, die immer komplexer werden, um den zunehmend facettenreichen Unehrlichkeiten standzuhalten. Das Vertrauen wird sogar außerhalb der normalen Reichweite des Marktes untergraben, was eine Einführung von Markt- und Vertragsanalogien in Lebensbereichen zeitigt, die normalerweise außerhalb von deren Reichweite sind. Dies verringert die Notwendigkeit gegenseitigen Vertrauens noch mehr.

Ein wichtiges Beispiel für die Mehrdeutigkeit dieses Prozesses ist die steigende Tendenz von Patienten, bei einer Fehlbehandlung den Arzt zu verklagen. Bis vor einigen Jahrzehnten haben Patienten ihren Ärzten vertraut und daran geglaubt, dass diese stets ihr Bestes gäben. Heutzutage sind die Menschen immer skeptischer und glauben nun eher, dass man Ärzten nicht vertrauen könne, solange man nicht mit Klagen droht. Die Kosten der medizinischen Versorgung steigen daher mit der Anforderung an Ärzte, teure Versicherungen abzuschließen.

Diese Entwicklung ist in den USA am extremsten zu spüren, dem Industrieland, in dem der Markt am weitesten in den medizinischen Bereich vorgedrungen ist und ein allein auf einem beruflichen Kodex basierendes Verhältnis verdrängt hat. Keiner der beiden extremen Standpunkte ist wünschenswert. Wie kann ein Mittelweg gefunden werden, der Vertrauen mit einer reinen Vertragsbeziehung ausgleicht, ohne der Letzteren komplett zu verfallen, wenn einmal das übermäßige Vertrauen traditioneller Arzt-Patienten-Beziehungen - zu Recht - untergraben ist? In einer Welt, in der man für Vertrauen keine Verwendung hat und in der Vertrauen als Wert nicht gefördert wird, verhalten sich nur Idioten vertrauensvoll; schlaue Menschen segeln dicht am Wind des Vertragsrechts und loten aus, womit sie ungeschoren davonkommen können.

Für dieses Phänomen bietet uns das moderne Finanzsystem weitere wichtige Beispiele. Das nationale Bankensystem in Deutschland oder Großbritannien etwa wurde einst von relativ kleinen Gruppen beherrscht, die untereinander typische Vertrauensbeziehungen hegten, denen Familie und Freundschaften zugrunde lagen.

Das Motto der Londoner Börse ist "dictum meum pactum" ("Mein Wort ist meine Verpflichtung"), ein ultimatives Beispiel für eine vertrauensvolle Beziehung, das Gegenstück der Finanzwelt zu "Vertrauen Sie mir, ich bin Arzt". Solche Vereinbarungen sind missbrauchsanfällig - Trickbetrüger machen auf genau solche Informalitäten Jagd. Diese Vereinbarungen beschränken sich auf eine kleine Elite und sind schwierig zu durchdringen; und ihre Wachstumsfähigkeit ist sehr beschränkt.

Wie die Berliner Politologin Susanne Lütz schreibt, kamen während der Liberalisierung globaler Märkte, die in den 1980er-Jahren begann, diese teilweise informellen, auf Netzwerken und Ansammlungen lokaler Traditionen basierenden Systeme unter Beschuss, da sie für die Massen an schnellen Transaktionen zwischen einander völlig Unbekannten, die das globale Finanzsystem bildeten, ungeeignet waren. Sie wurden durch einen transparenteren, regelgebundenen Ansatz ersetzt, der finanzielle Transaktionen rund um die Welt mit völlig fremden Personen ermöglichte. Dies erforderte neue, formelle Vertragsregeln. In der Praxis bedeutete das zeitgleich eine Amerikanisierung finanzieller Beziehungen; als relativ junges Land mit einer multinationalen Bevölkerung hatten die USA schon lange finanzielle Vereinbarungen, die nicht vom gemeinsamen Verständnis unter kleinen Gruppen abhängig waren. Deswegen das Paradoxon, dass eine Liberalisierung des globalen Finanzmarktes die Aufstellung umfangreicher neuer gesetzlicher Regulierungssysteme bedeutete, die informelle Vereinbarungen ersetzen sollten.

Eines der vielen Dinge, die sich durch die Finanzkrise von 2007 und 2008 herausstellten, war, dass Vertrauen unter Finanzpapierhändlern ein Thema geblieben ist. Als Banken erkannten, dass sie einander jede Menge Wertpapiere verkauft hatten, die das enthielten, was man später "toxic assets" nennen sollte, hörten sie auf, einander Darlehen zu gewähren, was zu einer Erhöhung der Darlehenszinssätze im Interbankengeschäft führte, was wiederum die globale Liquiditätskrise auslöste. Die Krise hat man korrekterweise als eine Krise der unzureichenden Regulierung bezeichnet, aber nicht nur das: Sie war auch eine Vertrauenskrise. Vertrauen spielt immer noch eine irreduzible Rolle in zwischenmenschlichen Beziehungen, sogar bei der reinen Finanzkalkulation, trotz nachdrücklicher lautstarker Versicherung seitens des Neoliberalismus, der Markt sei alleiniger Lenker wirtschaftlicher Beziehungen.

Man kann dieses entscheidende Beispiel als Wettstreit zwischen drei grundlegenden Strömungen sehen, die alle gescheitert sind: die alte, konservative Einrichtung des Vertrauens, die neoliberale Einrichtung des Marktes (unterstützt durch das Zivilrecht) und die von der Sozialdemokratie bevorzugte Einrichtung der gesetzlichen Festlegung. Die Neuorientierung des Finanzsektors an der Marktwirtschaft hat alte Strukturen auf Vertrauensbasis und auch gesetzliche Regulierungen untergraben. Nur der reine Markt blieb übrig, und dieser reagierte erst mit Selbstkorrektur, nachdem enormer Schaden verursacht worden war. Die in das System Involvierten haben das Ausmaß der Zerstörung von Vertrauen und Regulierung eindeutig unterschätzt.

Die Lehre, die wir aus dieser Geschichte ziehen können, deren Folgen immer noch unser aller Leben beeinflusst, ist, dass der Markt mehr Zerstörung verursachen kann, als man denkt, und dass man sich nicht ausschließlich auf den Markt verlassen kann, ein Pendant bereitzustellen für Aufgaben, die früheren, damals stillschweigend verrichtenden, Institutionen zukamen. Die Marktorientierung hat an der Vertrauensbasis mehr zerstört, als sie durch die Perfektion ihres Kalküls ersetzt hat.

Eine unmittelbare Lehre, die eine Gesellschaft, für die erste Anzeichen der Marktorientierung, wie Polanyi sie beschreibt, spürbar werden, war, dass eine öffentliche Ordnung mit Regulierungen notwendig ist, entweder noch während die Marktorientierung im Gange ist oder unmittelbar danach, um jene Strukturen zu retten, wiederherzustellen und, wenn möglich, zu verbessern, die zerstört worden sind. Die Finanzkrise ist die Folge eines Zusammenbruchs von Restbeständen an Vertrauen in Bankerkreisen und in modernen Regulierungsmechanismen - das heißt jene des vergangenen Jahrhunderts. (derStandard.at, 18.6.2013)