Andreas Winter
Nikotinsucht - die große Lüge
188 Seiten; 10,30 Euro
Mankau Verlag

Foto: mankau

Laut einer Umfrage der Österreichischen Krebshilfe aus dem Jahr 2012 greifen 33 Prozent der über 14-Jährigen regelmäßig zum Glimmstengel, weitere zehn Prozent frönen gelegentlich dem Zigaretteninhalationsrauchen, wie es so schön in der Fachsprache heißt. Rund 700.000 Raucher in Österreich gelten als hochgradig tabakabhängig. - Als Indikator dafür zählt die obligatorische Zigarette vor dem Einschlafen oder der Drang auch im Flugzeug einen "Sargnagel" durchzuziehen.

Auch wenn der Absatz von Tabakwaren weltweit etwas rückläufig ist, verdienen die Konzerne damit immer noch Milliarden. Von den Staatseinnahmen aus der Tabaksteuer ganz zu schweigen. Dem gegenüber steht ein wachsender Markt an Nikotinersatzpräparaten und Rauchentwöhnungsangeboten: Nikotin-Kaugummi oder -Pflaster, Akupunktur, Nichtraucherseminare, Hypnose, Kräuterzigaretten und jede Menge Ratgeber in Buchform. - Alle wollen sie nur das Beste für die Raucher, was nicht zuletzt bedeutet: ihr Geld.

Provokante Thesen

Auch Andreas Winter, Diplom-Pädagoge und Gründer des Instituts "Powerscout Wellness Coaching" in Dortmund, will scheinbar ein kleines Stück vom großen Kuchen und hat seine Ratschläge und Thesen zwischen zwei Buchdeckeln gepresst.

"Nikotinsucht - die große Lüge" heißt sein Werk, mit dem er die gängige Meinung von der körperlichen Abhängigkeit des Rauchers entkräften will. Um den Beweis anzutreten, stellt er provokante Fragen: Wieso werden Passivraucher vom Nikotinqualm nicht süchtig?“, Warum gibt es so viele Methoden der Nikotinentwöhnung, doch keine davon ist zuverlässig?, "Warum kann jeder Kettenraucher stundenlang ruhig schlafen, ohne von Entzugserscheinungen wach zu werden?" Seine Antwort lautet: "Weil Rauchen gar nicht süchtig macht." Demnach wäre es für jeden vermeintlichen Nikotinabhängigen ein Kinderspiel sofort die Finger von seinem Laster zu lassen.

Nicht schlecht gemacht, Herr Diplom-Pädagoge! - Wer sich im Aufmerksamkeitswettbewerb durchsetzen will, muss nur laut genug schreien, und das im besten Fall auch noch mit einem gehörig provokanten Unterton. Die wissenschaftliche Beweisführung fällt dafür umso dürftiger aus und erschöpft sich weitgehend in der Rezitation des "Placebo-Effekts", mit dem auch die bei der Entwöhnung nicht selten auftretenden körperlichen Reaktionen wie Gereiztheit, Nervosität, Schwitzen, Schlaflosigkeit, Schwindelgefühl oder Herzrasen erklärt werden.

Dekonditionierung als Schlüssel zum Erfolg

Was die psychische Abhängigkeit betrifft, werden die Ausführungen von Andreas Winter deutlich konkreter und nachvollziehbarer. - Hier liegt anscheinend der wahre Hund begraben, den wir mit Hilfe des Autors ausbuddeln sollen. "Der Griff zur Zigarette unterliegt keiner Sucht, sondern schlicht und einfach einer Symbolik, einer Informationsverknüpfung", schreibt Winter. Das heißt wir haben uns selbst konditioniert und der vermeintliche Zwang zum Rauchen ist quasi "angelernt“, um nicht zu sagen reine "Kopfsache“. Das müssen wir uns nur bewusst machen - am besten im Rahmen einer Sitzung bei "Powerscout Wellness Coaching", wie die Erfolgsgeschichten im vorletzten Kapitel des Buches suggerieren.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt vermeintlich in der Dekonditionierung: "Nachdem ein Raucher die Hintergründe seines Rauchverhaltens vollständig reflektiert hat, ist dieses nicht länger unbewusst - er wird es wieder bewusst steuern können, wie damals, zur Zeit des ersten Zuges an einer Zigarette."

Berühmt-berüchtigtes "Klick"

Es geht also darum, den viel zitierten "Schalter im Kopf" umzulegen - ein "Klick" und unser Verhalten ändert sich innerhalb von Sekunden. Dazu ist es notwendig den wahren Grund des Rauchens herauszufinden: Die Verknüpfung "rauchen = erwachsen sein" generiert letztendlich die Konditionierung, so Andreas Winter.

An dieser Stelle wird das Buch interessant, um nicht zu sagen aufschlussreich. Die meisten Raucher haben ihre ersten Erfahrungen mit Zigaretten in der Pubertät gemacht. Auch heute noch liegt das Einstiegsalter zwischen 13 und 15 Jahren, wie die Umfrage der Österreichischen Krebshilfe gezeigt hat: Immerhin ist der Raucheranteil in dieser Alterskohorte mit 40 Prozent am höchsten.

Der Jugendliche hat gelernt, dass es sich bei Zigaretten um ein Produkt für Erwachsene handelt, das für Kinder definitiv verboten ist. Im Rückschluss bedeutet das "Ich rauche - also bin ich erwachsen!"

"Erwachsensein" wiederum heißt mündig beziehungsweise selbstbestimmt handeln, was mit der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen und sich gegebenenfalls nonkonformistisch zu verhalten, verknüpft wird. Nicht umsonst stellt "Freiheit" das zentrale Werbesujet der Tabakindustrie dar.

Erwachsen werden

Diese Argumentation mag auf den ersten Blick etwas banal und trivial wirken, der Blick auf die Kulturgeschichte des Rauchens zeigt aber, dass mit dem Akt eine Zigarette zu verbrennen und zu inhalieren weit mehr verknüpft ist als nur eine ungesunde Gewohnheit.

Tabak wurde von den Ureinwohnern Amerikas - lange Zeit vor der Entdeckung des Kontinents durch die Europäer - angebaut und geraucht. Häuptlinge, Schamanen und Priester konsumierten das "heilige Kraut" zu besonderen und wichtigen Anlässen, wobei Kinder und Frauen von diesem Ritual ausgeschlossen waren. Der extrem hohe Nikotingehalt des Rohtabaks führte beim Inhalieren zu einer akuten Sauerstoffunterversorgung im Gehirn, die eine Art Trancezustand beim Rauchenden bewirkte.

Menschen, die aus ihrem Mund Rauch blasen konnten, ohne dabei zu verbrennen, dürften auch auf die europäischen Seefahrer eine gewisse Faszination ausgeübt haben. So wurden Zigaretten und Zigarren auch am "alten Kontinent" zu einem Symbol von Männlichkeit, das für Frauen zunächst tabu war. In den 1920er-Jahren avancierte der Nikotinqualm zum sichtbaren Zeichen weiblicher Emanzipation, über den Unabhängigkeit zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Symbolkraft wirkt laut Andreas Winter auch heute noch. - Etwa in der Arbeitswelt, wo das Rauchen die selbstbestimmte Pause und damit für wenige Minuten das Nichterfüllen der Erwartungen von Arbeitgeber und Kollegen visuell markiert.

"Dazu braucht man keine Zigarette, sondern nur den Mut, sich wirklich mündig und erwachsen zu fühlen", lautet das Fazit des Autors. Gut, wir Raucher sollten tatsächlich erwachsener werden und mehr Selbstverantwortung übernehmen - ob wir dazu Andreas Winter brauchen, sei allerdings dahingestellt. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 31.5.2013)