Winterausrüstung als gewinnbringendes Diebesgut: Simon (Kacey Mottet Klein, li.) und sein Gehilfe (Martin Compston) in Ursula Meiers Sozialdrama "Winterdieb".

Foto: thimfilm

Wien - Oben auf dem Berg liegt das Skigebiet. Die Angebote an Freizeitkultur sind vielfältig, die Pisten strahlend weiß, die Ausrüstung und Sportbekleidung der Touristen schreiend bunt und fast immer neuwertig. "Can you feel the magic?" - "Spüren Sie die Magie?" -, mit solchen Werbesprüchen sucht der zwölfjährige Simon (Kacey Mottet Klein) öfters einmal den Kontakt zu den Sporturlaubern. Später bestiehlt er sie - alles, was sich so findet, steckt er ein: die Skier, die Brillen, Handschuhe, selbst Rucksäcke voller Proviant.

Unten liegt das Tal, ein verstreut besiedeltes Niemandsland, das so wirkt, als würde nur die Schnellstraße es zusammenhalten. Hier lebt Simon mit seiner Schwester Louise (Léa Seydoux) in einem tristen Wohnblock. Die Lage ist prekär. Würde Simon die Winterausrüstung nicht selbst verhehlen, gäbe es kein Einkommen. Louise ist arbeitslos, mehr als ein paar Typen mit schnellen Autos scheinen sie jedoch nicht zu interessieren. Der jüngere Simon steht im Vergleich auf soliden Beinen.

L'enfant d'en haut - "das Kind ganz oben" - lautet der Originaltitel von Ursula Meiers Film Winterdieb. Die Westschweizer Regisseurin erzählt darin einmal mehr von einer sozialen Ausnahmesituation in einem genau vermessenen Umfeld: In Home (2008) stand das Beharrungsvermögen einer Familie im Zentrum, die sich in ihrem Haus verbarrikadiert, als vor der Tür die Autobahn ausgebaut werden soll. Das anfangs noch wirklichkeitsnahe Geschehen steigerte Meier mehr und mehr zur surrealen Parabel, ohne an Bodenhaftung zu verlieren.

In Winterdieb sind es die bereits erwähnten Kontraste zwischen den durch eine Seilbahn verbundenen Welten, die dem Geschwisterdrama eine ganz individuelle Note verleihen. Selbst als es eine überraschende Wendung nimmt, interessiert sich Meier weniger für das psychologische Profil ihrer Figuren als dafür, wie sie sich ihrer Umwelt anpassen; welche Mittel sie (er)finden, um aus einer Gemeinschaft, der sie nicht angehören, einen Vorteil zu ziehen. Ähnlich den belgischen Brüdern Dardenne richtet sich der wendige Kamerablick (Agnès Godard, die viel mit Claire Denis zusammengearbeitet hat) dabei vor allem auf die körperlichen Fertigkeiten der Figuren.

So macht es einerseits großes Vergnügen, Simon dabei zuzusehen, wie er sein Verhalten innerhalb des Skigebiets an die dortigen Gepflogenheiten anpasst. Kacey Mottet Klein agiert mehr wie ein Lausbub als wie ein Kleinkrimineller, flink und respektlos. Perfekt imitiert er die selbstsicheren Gesten eines Geschäftsmannes, als sein Handel kurzzeitig Blüten treibt, weil er einen britischen Partner aus dem Hüttenpersonal findet. Er spielt sogar ein wenig den Verführer einer reichen Lady – eine schöne Nebenrolle für Gillian Anderson (Akte X).

Erkaufte Nähe

Andererseits ist das Leben als Dieb natürlich alles andere als ein Erfolgsmodell. Meier muss die Metaphorik, dass es Simon immer wieder zurück auf den Boden des Tals zieht, gar nicht überstrapazieren. Die Ökonomie bleibt bald das Einzige, was den Buben an seine Schwester bindet: In einer besonders eindringlichen Szene erkauft er sich sogar das Recht, an ihrer Seite einschlafen zu dürfen. Die Liebe zwischen den beiden ist eher eine Form schmerzhafter Abhängigkeit, der etwas Urtümliches anhaftet - etwa wenn sie sich im schmutzigen Gras vor dem Wohnhaus balgen.

Meier zeigt mit solchen schon naturalistischen Bildern wohl auch auf, was in einer sozial ausgehöhlten Gesellschaft übrigbleibt: ein fast instinkthafter Impuls, sich aneinander festzuklammern. Die ausgebeuteten Landschaften spiegeln am Ende die Lage Simons wider: Als die Arbeits- und Freizeitwelt auf dem Berg mit dem Saisonende wie der Schnee verschwindet, sehen die leeren, schlammigen Pisten besonders trostlos aus. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 26.4.2013)