Eine Selbsthilfegruppe soll Betroffenen als Sprungbrett für eine Therapie dienen.

Foto: derStandard.at/Regina Walter

Freiheit, Wiedersehen, Bleib stark!, Gelassenheit, Leichtigkeit, Liebe, Innere Ruhe, Aushalten, Zuversicht, Disziplin, Weiter so!: Mit diesen Worten endet ein Abend der Selbsthilfegruppe "Mit meiner Essstörung auf du und du". Jeder Teilnehmer hat damit seinen persönlichen Wunsch für die kommende Woche formuliert.

Der Raum, in dem sich die Selbsthilfegruppe alle zwei Wochen in Wien einfindet, hat das Flair eines gemütlichen Wohnzimmers. Freigelegte Ziegelwände, ein loderndes Feuer im Kamin in der Ecke, eine rote Samtcouch, die zum Hinsetzen einlädt. Michaela Schertler, Lebens- und Sozialberaterin, hat die Gruppe 2011 ins Leben gerufen. Sie leidet selbst seit 30 Jahren unter Bulimie, seit sieben Monaten ist sie symptomfrei.

"Mich setzt der kommende Sommer total unter Druck", berichtet eine junge Frau in der Runde. Sie leidet ebenfalls unter Bulimie, erbricht jedoch seit Abschluss einer stationären Therapie vor vier Monaten nicht mehr. "Ich kann mich im Spiegel nicht mehr ansehen", erzählt eine Frau, die neben einem bestehenden Borderline-Syndrom eine Essstörung entwickelt hat. "Ich habe in den letzten drei Wochen eineinhalb Kilogramm zugenommen, und diese eineinhalb Kilogramm kreisen jetzt permanent in meinem Kopf herum", sagt eine andere Dame.

Nicht klassifizierbar

Die Beschäftigung mit Essen und dem eigenen Körpergewicht steht für alle Teilnehmer der Selbsthilfegruppe im Fokus ihres Lebens. Das Essverhalten der Betroffenen ist dabei ganz unterschiedlich und auch nicht immer so eindeutig klassifizierbar wie die Bulimie. Von nächtlichen Fressattacken, irritiertem Essverhalten, Naschsucht und jahrelanger Übelkeit wird unter anderem berichtet.

Zehn Frauen und ein Mann sind an diesem Abend zugegen. Die Nachfrage, an der Selbsthilfegruppe teilzunehmen, ist hoch, sagt Schertler, tatsächlich kommen jedoch oft nur wenige Besucher. Den Grund glaubt Schertler zu wissen: "Hochs und Tiefs gehören zum Krankheitsbild einer Essstörung. In einem Tief geht ein Betroffener in aller Regel nirgends hin." Eine Möglichkeit, sich trotzdem auszutauschen, haben die Betroffenen auf Facebook gefunden.

Die jüngste Besucherin ist 16 Jahre alt. Auch sie leidet unter Bulimie und fühlt sich in der Gruppe aufgehoben. "Meine Mutter findet, ich brauche keine Selbsthilfegruppe", sagt das Mädchen. Auf die Frage, ob die Mutter von ihrer Erkrankung weiß, antwortet sie: "Ich habe es schon öfter erwähnt, aber meine Mutter reagiert immer wieder überrascht. Ich bin nicht sicher, ob es ankommt."

Hilflosigkeit und Rückzug

Mit Unverständnis und Ignoranz im Umfeld kämpfen auch andere. "Mir ist seit zehn Jahren übel, und ich kann daher nur Reis, Gemüse und Brot essen. Das ist sehr schwierig in Gesellschaft, weil es keiner versteht", sagt ein attraktive Frau in der Runde. Oft ist es auch der eigene Partner, der mit der Erkrankung des Lebensgefährten lieber nichts zu tun haben will. "Wegschauen ist einfacher, hinschauen heißt, hilflos zu sein", sagt Schertler und bringt die Problematik auf den Punkt, die sich aus der Erkrankung für eine Partnerschaft ergibt: "Es ist wie eine Dreierbeziehung: ich, meine Essstörung und mein Mann."

Die Betroffenen reagieren mit sozialem Rückzug, und viele versuchen, ihre Essstörung geheim zu halten. "Ich bilde einfach eine Mauer und funktioniere so eigentlich sehr gut", erzählt eine Dame. Funktionieren und es anderen recht machen mit dem Ziel, geliebt zu werden, ist für alle Teilnehmer der Selbsthilfegruppe wichtig. Neinsagen fällt schwer, und der Preis der Konfliktvermeidung ist für viele hoch. "Das geht bis zum körperlichen Ruin", sagt Schertler.

Und auch wenn der Körper seinen Tribut bereits einfordert, fehlt den Betroffenen über weite Strecken das Krankheitsbewusstsein: "Ich bin nicht krank, zumindest nicht krank genug für eine Therapie", sagt eine Frau, die unter täglichen Fress-Brech-Attacken leidet. "Ich weiß, dass das, was ich tue, nicht gut ist. Trotzdem kann ich nicht anders agieren", sagt die Frau mit dem Borderline-Syndrom. "Dieser Mechanismus hat sich wie eine Wachstafel in mein Gehirn eingebrannt", erzählt eine andere. Den Ausstieg aus diesem Prozess bezeichnen sie alle als mühsam, eine Chance nach oben geben sich nur diejenigen, die ganz unten gelegen sind.

Heilige Toilette

Die Selbsthilfegruppe soll den Betroffenen als Sprungbrett für eine Therapie dienen. Dass diese nicht immer hilfreich ist, davon wissen einige Frauen zu berichten. Andere haben mit therapeutischer Hilfe erfolgreich Strategien gegen bestimmte Essgewohnheiten entwickelt: "Ich verwende jetzt Babyflaschen in der Nacht. Da muss ich nuckeln. Das ist anstrengend, und ich trinke nicht mehr literweise Milch", sagte eine. "Meine Toilette ist heilig. Sie ist unberührt, sprich, ich habe, seit ich in Österreich bin, noch nie darin erbrochen. Ich will, dass sie heilig bleibt", erzählt eine andere Besucherin.

Eine Frau hat die Comicfigur Hulk zu ihrem inneren Beschützer erklärt: "Hulk nimmt in Krisensituationen mein inneres Kind an die Hand und bringt es an einen sicheren Ort." Der Weg aus der Essstörung ist mitunter ein ungewöhnlicher, aber auf jeden Fall ein schwieriger.

"Es ist nicht leicht, aber mit jedem Tag, den ich dagegenhalte, wird es leichter", sagt Schertler und versucht mit ihrem eigenen Erfolg auch den Teilnehmern der Selbsthilfegruppe Mut zu machen. (Regina Walter, derStandard.at, 2.5.2013)