Wenn am 29. April in London die neue Liste der "World's 50 Best Restaurants" präsentiert wird, könnte die Aufmerksamkeit der feinen Köche und Esser der Welt sich schlagartig auf einen Kontinent verlagern, der bislang kaum im Fokus war: Südamerika. In São Paulo, Mexiko-Stadt oder Lima sind Köche am Werk, die mit enormem Selbstbewusstsein und beispielhafter Konzentration auf die Eigenheiten ihrer Heimat ins Rampenlicht drängen. Auf den als Seismografen der Branche geltenden Kochevents wie Madrid Fusión, Flemish Primitives oder Cook it Raw werden die neuen Latino-Chefs schon aufmerksam beäugt.

Alex Atala (D.O.M.) aus São Paulo ist der Superstar der neuen Latino-Küche.
Foto: Schedelberger, Helge Kirchberger, beigestellt

Alex Atala aus São Paulo darf als ihre Speerspitze gelten. Sein D.O.M. ist die Nummer vier der besten Restaurants der Welt. Mit dem neuen Ranking könnte er endgültig einen Stockerlplatz erreichen. Was er den Gästen verspricht, ist nichts weniger als die Essenz des Amazonas: "Mir ist nach der Ausbildung in Frankreich bewusst geworden, dass ich nie so gut französisch kochen werde wie ein Franzose, der mit den Geschmäckern seiner Heimat groß geworden ist. Also habe ich versucht, denselben Weg zu gehen – aber mit Ingredienzien, die der brasilianische Urwald bereithält", erklärt Atala.

Atala-Kreation: schwarzer Reis mit Gemüse und Dschungelkräutern, dazu Emulsion aus Paranüssen.
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Expedition in den Urwald

Auf Expeditionen in den Dschungel entdeckt er Kräuter, Wurzeln, Knollen, deren Geschmack zuvor nur indigenen Gemeinschaften zugänglich war. Die Kochtechniken, die er ihnen angedeihen lässt, sind allerdings auf dem letzten Stand seiner Zunft. Was Atala als zeitgemäßen Koch auszeichnet, ist aber nicht nur der Grad seines Könnens, sondern auch sein Einsatz für den Regenwald als Ursprung dieser Delikatessen ebenso wie als Lebensraum jener Völker, denen er sie zu verdanken hat (siehe Interview mit Alex Atala: Als der Koch auf die Bäume stieg).

Enrique Olvera (Pujol) schöpft aus dem Reichtum mexikanischer Küchentraditionen.
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Eine ähnliche Rolle spielt Enrique Olvera in Mexiko. Auch er hat im Ausland gelernt, bevor er in Mexiko-Stadt das Pujol eröffnete. Heute hat er alle Insignien, die einen Celebrity-Chef mit globalem Einfluss ausmachen: eigenes Restaurant, mehrere Kochbücher, weltweite Gastauftritte und eine eigene TV-Show. Olvera ist der Vielfalt der mexikanischen Küche verpflichtet und interpretiert sie mit moderner Küchentechnik und spektakulärer Präsentation auf dem Teller. Zum Hauptgang serviert er schon einmal schwarz gereifte Banane, im Ofen geschmort und mit Macadamianüssen und Kakaobohnen überzogen. Das schmeckt nicht etwa süß – sondern wie eine pikante Vermählung typisch mexikanischer Aromen.

Gastón Acurio (Astrid y Gastón), Lima: Hochküche und Kochschule für Slum-Kinder.
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Der kommerziell wohl erfolgreichste Koch Südamerikas ist aber Gastón Acurio aus Lima. Sein Ziel ist es, die peruanische Küche in der Welt populär zu machen. Mit Restaurants in Argentinien, Chile, Kolumbien, Panama, Venezuela und, seit neuestem, auch Spanien hat er dazu eine gute Basis gelegt. Berühmt wurde Acurio mit dem Fine-Dining-Restaurant Astrid y Gastón, das er über die Jahre zu einem Tempel der peruanischen Avantgarde formte.

Peruanische Snack-Kultur, hochgezwirbelt: Gastón Acurios aufwändige "Variación de causas".
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"Unsere Küche zählt zu den vielfältigsten der Welt, nur war das hier niemandem bewusst", sagt Acurio. Er hat etwa den in Zitrussaft marinierten Fisch, das peruanische Nationalgericht Ceviche, neu "erfunden" und in die Welt des Fine Dining eingeführt. Acurio engagiert sich auch stark für soziale Projekte, etwa mit einer eigenen Kochschule für Slum-Kinder. Heute gilt der Koch als neuer Nationalheiliger Perus und würde laut Umfragen bei Präsidentenwahlen auf Anhieb gewinnen.

Der Beau als Wildkräuter-Sammler

Rodolfo Guzmán (Boragó), Santiago de Chile: Beeren aus Patagonien, Fisch von der Osterinsel.
Foto: Schedelberger, Helge Kirchberger, beigestellt

Das kann Rodolfo Guzmán in Santiago de Chile noch nicht von sich behaupten, auch wenn der Koch mit dem Aussehen eines Hollywood-Beaus gerade dabei ist, Chile auf die kulinarische Weltkarte zu setzen. Wie seine Kollegen geht auch er den Weg, autochtone Nahrungsmittel zu nutzen. Er sucht in Patagonien nach unbekannten Beeren, holt Meeresfrüchte von der Osterinsel und sucht in den Bergen um Santiago nach Wildkräutern. In seinem Restaurant werden daraus sensible, hoch verdichtete Kreationen.

Jorge Rausch (Bistronomy), Bogotá: Neophyten essen und damit die Karibik retten.
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Selbst in Kolumbien tut sich einiges. Hier hat Jorge Rausch sich mit Restaurants in Bogotá und Cartagena als Shootingstar etabliert. Bei Madrid Fusión berichtete er, wie er dem giftigen Feuerfisch als Delikatesse zu Leibe rücken will. "Es geht mir aber nicht darum, einen Kick à la Fugu (der berühmt giftige Fisch, der in Japan als exklusive Delikatesse gilt, Anm.) zu vermitteln", sagt Rausch, "denn das Gift des Feuerfischs sitzt nur in den Stacheln der Flossen und lässt sich einfach entfernen." Vielmehr will er dazu beitragen, den Bestand an Feuerfischen zu dezimieren. Diese wurden vor 20 Jahren in die Karibik eingeschleppt und bedrohen das lokale Ökosystem. "Eat the fish and save the nature", so seine griffige Parole.

Auch in Österreich haben Atala, Acurio und Olvera bereits Spuren hinterlassen – sie waren Gastköche im Salzburger Brückenkopf der internationalen Küchen-Avantgarde, dem "Hangar-7". Guzmán könnte kommendes Jahr folgen. Küchenchef Roland Trettl kennt die moderne lateinamerikanische Küche wie kaum ein anderer: "Diese neuen Restaurants sind keine Refugien für die Geld-Eliten", sagt er, "sondern Orte, an denen selbstbewusste Köche etwas Neues erschaffen. Lateinamerika ist für mich derzeit kulinarisch die spannendste Ecke der Welt." Durchaus möglich, dass das der Rest der Welt schon bald sehr ähnlich sieht. (Wolfgang Schedelberger, Rondo, DER STANDARD, 12.4.2013)