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Philip Glass, der bisher 24 Opern verfasst hat: "Keine Ahnung, wo ich die Zeit gefunden habe, so viel zu schreiben."

Foto: AP/Marco Ugarte

Ein Gespräch mit dem Tonsetzer über Kompositionsprozess und künstlerische Intention.

Linz - Vom Linzer Hauptbahnhof rechts raus, eine betonklotzflankierte Hässlichkeitsavenue passierend, und schon landet man beim gewagt monolithischen Bau des neuen Linzer Musiktheaters. Wo ist nur der Bühneneingang? Bestmöglich im Gebäudepanzer versteckt, links hinten. Rauf in den vierten Stock, über den Dingen thronen Kantine und Intendanz. Philip Glass telefoniert noch in einem Kobel. Warten.

Kein Problem. Frage eins: Herr Glass, am 5. September 1853, was war da? Glass beginnt sein Herumrätseln mit Karl Marx. - Nein, denken Sie an einen Komponisten. - Hm. - Wagner, Richard Wagner. Er lag in einem Hotelbett in La Spezia, fühlte sich plötzlich wie in fließendem Wasser versinken und hörte Es-Dur-Klänge, den Beginn von Rheingold. Der Urmoment des Ring. Ob Philip Glass bei seiner Oper Spuren der Verirrten auch so eine Erstinspiration hatte?

Wachsende Komplexität

Hatte er. Der erste Motivkern sei ihm sofort eingefallen. Glass singt eine fallende Halbtonschrittsequenz, er neige dazu, einfache Dinge zu hören. Mit der Zeit würden die Sachen ja sowieso von selbst komplizierter. "Können Sie Noten lesen?" fragt Glass, schlägt die Partitur auf: "Schauen Sie, hier ist die Melodie, ich hörte zuerst die Trompeten, dann die Querflöten." Ja, er höre immer gleich die Instrumente mit.

Glass hat 36 Filmmusiken (darunter für Koyaanisqatsi, The Truman Show, The Hours) und 23 Opern komponiert. Seine 24. hat der US-Amerikaner auf ein Theaterstück von Peter Handke geschrieben, welches Linz-Intendant Rainer Mennicken als Opernlibretto eingerichtet hat: Spuren der Verirrten. Warum Handke, Herr Glass? "Wenn bei der Eröffnung eines österreichischen Opernhauses der Komponist Amerikaner ist und der Regisseur Brite, dann sollte wenigstens der Stoff von einem Österreicher sein."

Stimmt. Und warum Spuren der Verirrten? Als "träumerische Empfindungen leicht fiebriger Kindsköpfe" beschrieb die FAZ den Inhalt des Theaterstücks; Handke habe seinen Figuren eine "Weltwehtablette" verabreicht. Und auch bei der Lektüre des splitterigen Librettos meint man häufig gedrückte, teilapokalyptische Stimmungen zu erkennen.

"Finden Sie? Man kann es so empfinden, aber ich sehe das Stück anders. Eher wie einen Spiegel, den man der Gesellschaft vorhält. Hier findet schließlich die Eröffnung eines neuen Opernhauses statt, das ist ein nationales Ereignis. Wir wollten da sicher kein Stück bringen mit einer Begräbnisstimmung. Es zeichnet ein gesellschaftliches Panorama: Die Bühne quillt über vor Leben, am Ende sind da 200 Leute! Tanz, Schauspiel, Gesang und Musik, alles soll vertreten sein."

Und wie koordiniert David Pountney, der Regisseur, den ganzen Trubel? So ungefähr alle 15 bis 20 Jahre inszeniere Pountney eine seiner Opern, so Glass. Und ihn bei seiner dritten Arbeit beobachten zu dürfen, sei einfach nur die reine Freude gewesen, so der 76-Jährige. "Er ist gereift, er beherrscht sein Handwerk meisterhaft. Wie er auf die Bühne geht und die Leute bewegt! Sie sind für ihn wie Ton, aus dem er seine Szenen formt. Jeder macht sofort, was er will, auch die Kinder." Er habe keinen persönlichen Stil, hat Glass einmal in einem Interview gesagt, da sich sein Stil mit den Jahren permanent verändere.

Welche Charakteristika prägen Spuren der Verirrten? "Ich habe nun 24 Opern geschrieben", holt Glass aus, "das ist wirklich eine Menge. Keine Ahnung, wie ich die Zeit gefunden habe, so viel zu schreiben. Manchmal vergesse ich sogar einige. Wenn Sie 24 Kinder hätten, würden Sie sich da alle Namen merken können?" Wer weiß. Und welchen speziellen Sound hat nun Spuren der Verirrten?

"Es gibt viele verschiedene Farben. Das Textmaterial ist ja eher gesprächsartig, die Sprache ist einerseits einfach, auf der anderen Seite auch seltsam und poetisch. Und so sollte die Musik auch sein: klar und komplex gleichzeitig. Ich habe die essenziellen Aspekte einer dissonant-tonalen Sprache genommen und sie destilliert. Es war mir wichtig, eine Balance zwischen Wort und Musik zu finden und mit der Musik eine passende Umgebung für die Worte zu schaffen. Um ein Bild zu verwenden: Wenn die Worte zum Kleiderschrank gingen, hätte ich ihnen das passende Gewand für den Bühnentag zurechtgelegt." (Stefan Ender, Album, DER STANDARD, 6./7.4.2013)