Der Bub namens Rio ist immer auf der Hut: "Just the Wind / Csak a szél" von Bence Fliegauf.

Foto: Stadtkino Filmverleih

Wien - Rio hat sich im Wald einen geheimen Unterschlupf gebaut. Einen vergessenen Bunker hat er nach und nach mit dem Allernotwendigsten ausgestattet. Diesmal hat er eine Porzellanmadonna dabei und eine Dose mit Löskaffee, den Rio auf eine ganz spezielle Art zubereitet, als ihn einmal ein Gast in seinem Versteck überrascht.

Dieses Versteck wird noch wichtig werden. Rio ist eine der drei Hauptfiguren von Just the Wind/Csak a szél. Der fünfte Langfilm von Bence Fliegauf wurde 2012 bei der Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Nach dem parabelhaften Liebesdrama The Womb kehrt der inzwischen 38-jährige Autor und Regisseur damit wieder zu jener ungarischen Gegenwart zurück, die er zuletzt in Tejút (Milky Way, 2007) noch in Form einer Verhaltensstudie in zwölf Plansequenzen eher lakonisch und kommentarlos betrachtete.

Just the Wind hingegen greift ungleich dramatischere Vorkommnisse auf: Texttafeln am Anfang des Films berichten von systematischen Übergriffen auf ungarische Roma, sechs Menschen wurden dabei 2008 und 2009 umgebracht, über fünfzig wurden verletzt. Auf diese Informationen folgt eine kurze Sequenz, die sich erst am Ende des Films zur Gänze erschließen wird, ebenso wie dessen Titel. Bis dahin begleitet man jene drei Figuren durch die brütende Hitze eines Sommertages, denen man zunächst im Halbdunkel des Morgens begegnet:

Als Erste steht Mari (Katalin Toldi) auf. Sie macht ihrem bettlägerigen Vater ein Frühstück. Ihrer Tochter Anna schärft sie noch ein, dafür zu sorgen, dass ihr Sohn Rio ebenfalls zur Schule geht. Danach macht sich Mari im Morgengrauen auf den Weg, der vom desolaten Wohnhaus durch ein Waldstück bis zu einer Straße führt. Dort wird sie in einen Kleinbus steigen, der sie zur ersten Arbeitsstelle dieses Tages bringt.

Anna (Gyöngyi Lendvai) schafft es bald darauf nicht, ihren Bruder zum Aufstehen zu bewegen. Auch sie nimmt den Weg zur Landstraße. Eine Gruppe Männer hält Wache und stellt Fragen - aber Anna hat keine besonderen Beobachtungen gemacht. Während sie später in der Schule dem Unterricht folgt, sich vor dem Hausmeister wegduckt und auch sonst bemüht scheint, nicht weiter aufzufallen, streift Rio (Lajos Sárkány) allein durch die Umgebung des Hauses.

Ganz in der Nähe haben Unbekannte in der Nacht erst eine Roma-Familie erschossen. Mari und ihre Kinder, die darauf warten, zum Vater nach Kanada zu ziehen, sind also nicht ohne Grund - und wortlos - in Alarmbereitschaft. Die konkreten Anfeindungen bleiben lange beiläufig: boshafte Manöver eines Bus-Chauffeurs oder eines Arbeitgebers; eine handgreifliche Auseinandersetzung auf der Straße, der Mari sich gekonnt entwindet.

Latente Gefahren

Im Vordergrund von Just the Wind stehen die Ausarbeitung einer Lebensrealität im Detail und die Verdichtung einer Atmosphäre latenter Bedrohung. Erstere ist von ärmlichen Lebensumständen und von harter Arbeit geprägt. Letztere wird unter anderem durch die Art und Weise verstärkt, in der sich die Kamera von Zoltán Lovasi an die Körper der Protagonisten heftet.

Meist dicht hinter diesen, folgt man den Figuren auf ihren Wegen und bei alltäglichen Verrichtungen. Man folgt auch ihrer Wahrnehmung, etwa wenn schräg hinter Rio ein dunkler Pkw sichtbar wird, der neben dem Buben sein Tempo verlangsamt. Nicht nur in dieser Szene, wenn Rio versucht, die Situation einzuschätzen, ohne sich eine Blöße zu geben - er bückt sich schließlich scheinbar zufällig, das Auto fährt weiter -, verweist der Film über physische Reaktionen auf mögliche innere Vorgänge, auf wachsende Panik. Das ist letztlich eindringlicher als jeder psychologisierende Zugang. (Isabella Reicher, DER STANDARD,  4.4.2013)