Norbert Ceipek über seelische Zerstörungen missbrauchter Kinder, die in der Drehscheibe betreut werden: "Die Crux an der Sache ist: Keines dieser Kinder fühlt sich als Opfer." 

Foto: Christian Fischer

"Es gibt einige wenige Roma-Clanchefs, die sich eine goldene Nase verdienen, indem sie ihre Landsleute ausbeuten."

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"Daher frage ich: Ist das menschlich, dass man einem Achtjährigen so einen Stress auferlegt?"

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STANDARD: Ist die Drehscheibe eine Wiener Institution? Treffen wir uns deshalb in Ihrem Büro?

Ceipek: Als Wiener Institution würde ich die Drehscheibe nicht bezeichnen, aber für mich ist es der Platz, wo ich mich als Nicht-Wiener sehr geborgen fühle.

STANDARD: Sie kümmern sich seit 1998 um unbegleitete Kinder, die in Wien aufgegriffen wurden. Wie kommt Ihr Engagement an?

Ceipek: Das Feedback ist eigentlich grandios. Sehr viele Wiener rufen mich an und bringen mir Bekleidung und Spielsachen für die ärmsten Kinder. Das zeigt mir, dass wir gut ankommen.

STANDARD: Sie haben vor kurzem in einem "FAZ"-Interview gesagt, Roma-Clanchefs nützten das Elend der Kinder als Geschäftsmodell aus. Kann man das so sagen?

Ceipek: Ja, das kann man. Da gibt es einige wenige, die sich eine goldene Nase verdienen, indem sie ihre Landsleute ausbeuten.

STANDARD: Wie viele sind das?

Ceipek: Über den Daumen ... 30  bis 40 in Rumänien, die sich das Land aufteilen, noch einmal so viele in Bulgarien. Dann weiß man, wo das Geld hinkommt.

STANDARD: Sie kennen diese Clanchefs?

Ceipek: Ja.

STANDARD: Wieso sitzen die dann nicht längst hinter Gittern?

Ceipek: Weil sie von der eigenen Community so geschützt werden, dass man ih rer gar nicht richtig habhaft werden kann.

STANDARD: Aber es müsste doch jede Menge Aussagen von Kindern geben, die Sie gerettet haben?

Ceipek: Jein. Die Crux an der Sache ist: Keines dieser Kinder fühlt sich als Opfer. Man braucht immer ein Opfer, um auch einen Täter zu haben. Wie soll ich also in dem Fall die Täter kriegen? Ich hatte hier ein 14-jähriges Mädchen, das ist an einem Wochenende 14-mal sexuell missbraucht worden, die wurde regelrecht verkauft an einen Klienten.

Die saß genau hier, wo Sie jetzt sitzen, und sagte zu mir: "Chef, ich habe 150 Euro bekommen an diesem Wochenende. Das ist viel mehr, als mein Papa für schwere Arbeit im Monat bekommt. Ich mach das sicher wieder." Die fühlt sich stolz, obwohl man sie kaputtgemacht hat. Und obwohl ihr "Vermieter" 200 Euro pro Freier bekommen hat. Was sage ich diesem Kind?

STANDARD: Sie sagen ihr zum Beispiel genau das: dass der Typ, der sie verschachert hat, 200 Euro pro Freier bekommen hat.

Ceipek: Das habe ich getan. War ihr egal. Sie war stolz auf die 150 Euro.

STANDARD: Aber dann dürfte es bei keinem Korruptionsprozess Verurteilungen geben. Da gibt es auch kaum Opfer.

Ceipek: Zum Glück gibt es jetzt einen auf Kinderhandel spezialisierten Richter in Wien. Darüber bin ich sehr erleichtert. Denn wir hatten so viele Opfer und fast keine Verurteilungen. Aber wir hatten auch Erfolge: Allein in den ersten Jahren der Visa-Liberalisierung sind 48 Schlepperringe in Rumänien ausgehoben worden – nur durch die Zusammenarbeit von Bundeskriminalamt, Drehscheibe und rumänischer Botschaft.

Dieses Kooperationsdreieck hat sich gefestigt, ich habe es jetzt ausgedehnt auf Bulgarien. Mit Bosnien-Herzegowina, mit Serbien, Ungarn und der Slowakei arbeite ich zusammen. Und da bald auch Visa-Liberalisierungen mit Moldawien geplant sind, habe ich auch meine Kontakte dorthin intensiviert.

STANDARD: Warum sind die Clanchefs so mächtig?

Ceipek: Sie treten zuerst einmal auf wie Papas. Sie sind die Vaterfiguren in einem Dorf. Innerhalb dieser Gemeinschaft herrschen eigene Gesetze. Diese Männer repräsentieren so etwas wie die Gerichtsbarkeit im Kleinen und entscheiden darüber, ob jemand aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wird.

Zudem haben sie Geld, das sie auch in einem ersten Schritt relativ großzügig verteilen. Und dann halten sie die Menschen in einer lebenslangen Schuldhaft. Damit machen sie die Dorfbewohner zu ihren Marionetten. Das ist ein simples System und funktioniert immer – vor allem mit dem ideologischen Hintergrund: "Wir sind eine benachteiligte Minderheit, wir müssen zusammenhalten."

STANDARD: Was tun Sie, um denen, die Kinder ausbeuten, zu schaden?

Ceipek: Mein Konzept ist die permanente Betriebsstörung. Ich bin einfach da, wenn Hilfe nötig ist. Und ich kann mittlerweile im richtigen Augenblick den richtigen Menschen anrufen, der mir sofort hilft. Früher habe ich für Amtshilfe in Ungarn drei bis sechs Wochen gebraucht. Heute habe ich die Antwort in drei Stunden. Das ist schon ein Fortschritt.

STANDARD: Ein achtjähriges Mädchen wird aufgegriffen, weil es jemandem etwas aus der Tasche stehlen wollte. Wie arbeiten Sie?

Ceipek: Das Mädchen kommt auf die Polizeiwache, hat keine Papiere bei sich. Sie sagt ihren Namen, und der ist oft auch nur Schall und Rauch. Die Polizei bringt mir das Kind mitsamt dem Protokoll dessen, was vorgefallen ist.

STANDARD: Was ist mit der Aufpasserin, die das Kind dabeihat?

Ceipek: Die taucht bei mir auf oder bei der Polizei, dort veranstaltet sie ein Riesentheater, wo sie sich über das angeblich schlimme Kind ereifert, das ihr weggelaufen sei. Ich habe aber in der Zwischenzeit die Botschaft informiert. Mein Verbindungsmann kommt binnen dreißig Minuten, wir sprechen beide mit dem Kind.

Wenn die Aufpasserin mit einem notariell beglaubigten Papier auftaucht, dass ihr das Kind auszuhändigen ist, prüfen wir sofort ihre Identität und schauen, ob sie mit dem Kind verwandt ist. Ist sie das nicht - und das ist sie nie -, wird ihr das Kind nicht ausgehändigt. Kommen die Leute mit so einem Papier, ist das für mich das erste Alarmsignal. Da werde ich stur.

STANDARD: Was passiert dann?

Ceipek: Ich setze mich mit der Jugendwohlfahrtsbehörde des Heimatlandes in Verbindung. Dann sucht sowohl die Polizei nach den Eltern als auch das dortige Jugendamt. Ich beantrage einen Ersatzreisepass, gültig für ein paar Tage, und dann fliege ich mit dem Kind in sein Heimatland zurück. Das Kind übergebe ich dann einem  Sozialarbeiter am Flughafen, es kommt in ein Krisenzentrum oder zu Pflegeeltern. Und ab dem Moment, wo das Kind behördlich registriert ist, ist es für die Hintermänner uninteressant.

STANDARD: Schwebt das Kind dann in Lebensgefahr?

Ceipek: Nein. Das wäre viel zu aufwändig. Weder die Kinder noch die Eltern werden je wieder be helligt. Eltern haben sich deshalb schon bei mir bedankt, weil sie ab sofort in Ruhe gelassen wurden.

STANDARD: Ist Ihnen je ein verschlepptes Kind wiederbegegnet?

Ceipek: Keines der Kinder, die ich repatriiert habe, das waren so an die 400, habe ich je wiedergesehen. Nur eines ist wieder in Hamburg aufgetaucht.

STANDARD: Wie viele kommen pro Woche?

Ceipek: Jetzt landen pro Monat zwei Kinder bei uns - 2003 und 2004 waren es einmal an einem Tag 14 Kinder.

STANDARD: Was halten Sie von Bettelverboten?

Ceipek: Ich halte von generellen Bettelverboten, wie in Graz, gar nichts. Das kriminalisiert alle. Von der Wiener Regelung halte ich viel. Da wird das Betteln mit Kindern ganz konkret verboten. Erwachsene können sich immer wehren, Kinder nicht. Die müssen dem Zwang immer nachgeben.

STANDARD: Sie waren vor kurzem mit einem anders gelagerten Fall in den Schlagzeilen. Ein zwölfjähriger syrischer Bub wurde von der Mutter am Westbahnhof zurückgelassen. Kommt so etwas öfter vor?

Ceipek: In dieser Form war das ein Einzelfall. Es kommt sehr selten vor. Aber was noch viel schlimmer als dieser Fall ist: dass immer mehr jugendliche Kinder aus Afghanistan hergeschickt werden zu uns, als Vorboten.

STANDARD: Zu welchem Zweck?

Ceipek: Ihre Eltern erwarten explizit, dass die vorgeschickten Kinder so schnell wie möglich Asyl bekommen, um den Rest der Familie nachholen zu können. Unter diesem enormen psychischen Druck zerbrechen viele Kinder aus Afghanistan fast.

STANDARD: Wie damit umgehen?

Ceipek: Ich fürchte, das Einzige ist, dass man den Nachzug der Familie so schwierig wie möglich macht. Damit die Eltern von vornherein nicht die Kinder schicken. Und es sind immer die Jüngsten, die kommen. Weil die Eltern wissen, um die Minderjährigen kümmert sich hier der Staat.

STANDARD: Aber Familienleben ist ein Menschenrecht.

Ceipek: Ja. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Familiennachzug ist ohnehin schon nur auf die engsten Familienmitglieder beschränkt. Aber dennoch werden hier Kinder vorgeschickt, deren Wohl niemanden interessiert, und daher frage ich: Ist das menschlich, dass man einem Achtjährigen so einen Stress auferlegt?

STANDARD: Sie würden Familiennachzug noch restriktiver regeln?

Ceipek: Ja. Oder es muss ein anderer Modus Operandi gefunden werden. Denn die betroffenen Kinder sind für immer kaputt.

STANDARD: Die Drehscheibe gilt als Aushängeschild der Wiener Jugendwohlfahrt. Wie war die Unterstützung der Stadt, als Sie angefangen haben?

Ceipek: Ich bin sehr stolz, dass wir mit unserer Mickymaus-Institution Vorbildcharakter für andere haben. Und ich bin der Stadt Wien dankbar, weil man mich immer hat arbeiten lassen. Es war nicht absehbar, ob ich Erfolg habe. Auch das ist die Arbeit der Jugendwohlfahrt. Nicht nur Wilhelminenberg und eine monströse Vergangenheit. Ich zähle mich zu der Generation, die genau zwischen alter und neuer Jugendwohlfahrt begonnen hat.

Wir haben ein ganz anderes Berufsethos und eine andere Ausbildung und müs sen jetzt die Altlasten derer schultern, die ungelernt und zum Teil völlig ungeeignet waren. 3000 Sozialarbeiter leisten tolle Arbeit, stehen in der Öffentlichkeit aber in Misskredit wegen vielleicht 20 perverser Vollidioten, die vor langer Zeit ihr Unwesen trieben. Das macht mich traurig. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 30./31.3.2013)