Ein unbescholtener Mann wird immer mehr ins Eck gedrängt: Lucas (Mads Mikkelsen, li.) zeigt sich in Thomas Vinterbergs "Die Jagd" starrsinnig und kämpft bald gegen den ganzen Ort.

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Thomas Vinterberg (43) studierte an der National Film School in Dänemark. Mit Lars von Trier rief er 1995 die Dogma-Bewegung ins Leben. Sein Beitrag "Das Fest" machte Vinterberg schlagartig berühmt.

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Dominik Kamalzadeh sprach mit dem Regisseur über falsche Opfer, Freiheiten der Vergangenheit und Alkohol.

STANDARD: In "Die Jagd" wird ein Mann beschuldigt, sich an einem Kind vergangen zu haben. Die Gemeinde wendet sich gegen ihn, ein Mob entsteht. Inwiefern ist "Die Jagd" für Sie denn eine Auseinandersetzung mit Dänemark?

Thomas Vinterberg: Das Rückgrat der Geschichte ist sicher universell: Hexenjagden gibt es so lange, wie wir zurückdenken können. Für mich ist der Film wie ein Märchen, in der Tradition eines Hans Christian Andersen: Es beginnt in Reinheit und Liebe, doch dann bricht alles auseinander. All die Dinge, die diese Geschichte umgeben, ihr Boden, sind sehr dänisch. Irgendwo ist der Film sogar eine Liebeserklärung an dieses kleinstädtische Dänemark.

STANDARD: Mit dem ländlichen Ritual der Jagd weisen Sie darauf hin, dass es in dieser Gesellschaft etwas Archaisches gibt. Ist die Zivilisation so fragil, dass sie leicht ins Gegenteil umschlagen kann?

Vinterberg: Wir haben die Anordnung des Films durchaus als eine Art Labor gesehen - wie unter Wasser. Da ist eine Bedrohung, ein Denken, das sich wie ein Virus ausbreitet. Man kann behaupten, dies sei etwas, was unten drunter darauf wartet auszubrechen; man kann aber auch sagen, dass es aus dem Nichts auftaucht. Ich betrachte diese Gesellschaft als eine völlig unschuldige. Doch sie erliegt diesem Drang, jemanden für schuldig zu erklären - sie will an dieses Opfer glauben. Es gibt diese romantische Viktimisierung von Kindern, die eine Überbehütung zur Folge hat. Das birgt etwas sehr Gefährliches in sich.

STANDARD: Sie meinen, dass die Prävention von Missbrauch mittlerweile zu weit geht?

Vinterberg: Es ging uns nicht ums Moralisieren. Allerdings gibt es diese Fälle von eingebildeten Übergriffen tatsächlich - in Norwegen wurden bei einem Fall sogar 45 Menschen, unter anderem der Polizeichef des Ortes, des Missbrauchs beschuldigt, verhaftet und später wieder freigelassen. Der Film berührt auch etwas, was wir über die letzten 30 Jahre verloren haben. Ich bin in einer Kommune aufgewachsen, unter nackten Menschen. Und es gab dort keinen Fall von Kindesmissbrauch, wohlgemerkt. Heute ist es für einen Lehrer schon bedenklich, ein weinendes Kind auf seinen Schoß zu setzen. Bei manchen Toiletten in Kindergärten gibt es keine Türen mehr. Meiner Tochter wurde verboten, Handschuhe zu tragen, die mit einer Schnur verbunden sind - sie könnte sich ja erwürgen!

STANDARD: Sie beklagen einen Verlust von Grundvertrauen.

Vinterberg: Ja, und von Unschuld. Wir können unsere Kinder nicht vor dem Leben schützen. Ich habe dafür keine Antworten, aber die Unbeschwertheit der Vergangenheit fehlt mir. Ich vermisse es, in einem Auto mit vier rauchenden Menschen zu sitzen.

STANDARD: Lucas ist für Mads Mikkelsen eine ungewöhnliche Rolle - so soft und bescheiden kennt man ihn nicht. War seine Rolle von Anfang an so angelegt?

Vinterberg: Nein, wir schrieben die Rolle mit einer Figur im Kopf, die eher Robert De Niro in The Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen) glich. Ein harter Bursche, ein Schmied und Jäger; dann kam Mads an Bord, und ich fand, er ist so komplett. Einen Monat vor dem Dreh kehrten wir die Sache um: Er sollte nun ein freundlicher Mann sein, der mit den Kindern auf Augenhöhe steht, etwas fast Christliches, auch "leicht Kastriertes" hat. Die Diskussion darüber, wie es ist, ein Mann zu sein, wie zivilisiert wir sind oder eben nicht, kam erst damit auf. Als Lucas im Supermarkt aufbegehrt, haben die Leute in Cannes applaudiert. Das war auch verstörend.

STANDARD: Das Publikum identifiziert sich mit ihm. Die Szene hat etwas Masochistisches, wie in "Fight Club". Warum tut er sich das an?

Vinterberg: Ich mag den Vergleich, aber es geht mehr darum, stur zu sein. Er ist wie ein Hobbit, ein kleiner, freundlicher, aber eben auch sehr strenger Mann. Man kann ihn nicht stoppen. Das ist ein wenig zum Fürchten - und auch sehr dänisch. Sein Starrsinn erscheint zu einem gewissen Grad irrational, dabei verhält er sich für seine Situation normal. Er läuft nicht davon - das ist etwas, womit wir gerungen haben, denn dramaturgisch ergibt es eigentlich keinen Sinn. Er handelt so, weil er die Gemeinschaft im Grunde liebt - sie ist seine Familie.

STANDARD:  Als Regisseur haben Sie nach Ihrem Erfolg mit "Festen" sehr unterschiedliche Arbeiten gemacht. Betrachten Sie "Die Jagd" auch als eine Art Rückkehr zum Gesellschaftsdrama?

Vinterberg: Ich habe mich durch Festen in einer Art Falle befunden. Der Film war die ultimative Erfahrung - danach musste ich die Richtung wechseln, weil ich die Erfahrung nicht wiederholen konnte. Ich habe zehn Jahre andere Zugänge probiert; am Ende war meine Karriere ruiniert, meine Ehe war vorbei, meine Firma verkauft. Das Leben in der Dunkelheit war aber gar nicht so schlecht, wohlgemerkt. Ich war nicht unbedingt unglücklich. Es schuf viele wichtige Erfahrungen für mich.

STANDARD: Haben Sie Ihren Experimentiergeist trotzdem behalten?

Vinterberg: Ich bin immer noch süchtig nach dünnem Eis. Nach Die Jagd muss ich wohl wieder die Richtung ändern. Deswegen habe ich auch eingewilligt, ein opulentes Kostümdrama zu realisieren.

STANDARD: Sie werden auch wieder am Burgtheater inszenieren.

Vinterberg: Ja, das nächste Projekt wird eine Feier des Alkohols.

STANDARD: Und das bedeutet?

Vinterberg: Dass unser sehr mittelmäßiges Dasein und Denken von Alkohol befreit werden kann ...

STANDARD: ... zeitweise ...

Vinterberg: Denken sie an die Weltgeschichte! Was wurde nicht alles von Leuten erreicht, die völlig besoffen waren. Der Zweite Weltkrieg wurde von Churchill gewonnen, der einmal gesagt hat, er trinke nie vor dem Frühstück. Denken Sie an alle die Literaten, die getrunken haben. Natürlich stirbt man auch daran. Eine Volkskrankheit. Das fasziniert mich sehr. Ich selbst trinke nicht genug. Mir fehlt die Zeit, aber ich finde es inspirierend. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 30./31.3./1.4.2013)