Auch heute noch türmen sich Schutt und zum Teil strahlender Müll in Minamisoma.

Foto: Teske

Es gibt kein Endlager und viele hoffen auf Entschädigungszahlungen, bevor sie aktiv werden.

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Ein Drittel des Stadtgebiets von Minamisoma liegt innerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone, die rund um das AKW Fukushima Daiichi errichtet wurde.

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Die Fahrt ins Katastrophengebiet führt durch eine ruhige Landschaft, entlang an Bergen, Wäldern, Feldern und vereinzelten Häusern. An der Straße stehen Gewächshäuser, hier und da sieht man verwaiste Wäscheständer oder Spielgeräte in den Vorgärten. Doch von den Bewohnern fehlt jede Spur. Nirgendwo lassen sich Fußgänger blicken.

Der Nordosten Japans war nie stark bevölkert und die Straßen werden selten von Passanten genutzt. Seit im März 2011 drei Reaktoren im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi außer Kontrolle gerieten, ist es noch ruhiger geworden. Und das nicht nur, weil der Geigerzähler in manchen Gebieten eine zehnmal höhere Strahlung aufweist als in Tokio.

Dreigeteilte Stadt

Die Küstenstadt Minamisoma gehört zu denen, die vor zwei Jahren am stärksten von der Katastrophe betroffen waren. Mehr als 600 Menschen verloren damals in den Fluten ihr Leben.

Zwar blieb anders als in manchen Städten der Nachbarpräfekturen Miyagi und Iwate die Innenstadt vollständig von der Tsunamiwelle verschont. Aber Minamisoma ist seither eine in drei Zonen unterteilte Stadt: Die Grenzen trennen bewohnbare Gegenden von unbewohnbaren, verstrahlte von weniger verstrahlten. Sie trennen Bauersfamilien von ihrem Land, Angestellte von ihrem Arbeitsplatz und Familien von ihren Nachbarn.

Nächtliches Betretungsverbot

Weil Fukushima Daiichi an Minamisomas Stadtgrenze liegt, wurde unmittelbar nach dem Reaktorunglück ein Sperrgebiet mit einem Radius von 20 Kilometern eingerichtet. Das umfasste fast ein Drittel des Stadtgebiets. Ein weiteres Drittel lag in einer Zone bis zu 30 Kilometer um das Werk. Hier empfahlen die Behörden eine Evakuierung, setzten sie aber nicht durch.

Nur der Nordwesten der Stadt galt als sicher. Ein Jahr nach dem Beben wurde das Sperrgebiet auf einen Umkreis von zehn Kilometern verkleinert. Seither dürfen die Bewohner sich dort tagsüber aufhalten. Allerdings funktioniert die Versorgung mit Strom und Wasser nicht überall. Und nachts gilt weiterhin der Ausnahmezustand.

Polizei gegen Plünderer

Um Plünderungen zu verhindern, patrouillieren Streifenwagen aus ganz Japan in Minamisoma. Selbst aus Okinawa – eine tropische Inselgruppe mehr als 1.500 Kilometer entfernt – kommen Mannschaftswagen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Das eigentliche Problem können sie nicht lösen. Das Leben der Menschen ist aus den Fugen geraten. 23.000 von ehemals 71.000 Einwohnern haben Minamisoma verlassen. Fast 8.000 Menschen leben in Notunterkünften – weil der Tsunami ihr Haus weggeschwemmt hat oder weil sie zu nah am Atomkraftwerk wohnten.

Manche sind zurückgekehrt

Vielen ist die Entscheidung zu gehen schwer gefallen. Manche sind zurückgekehrt. So wie Aiko Abe. Zusammen mit ihrem Mann Hoji und ihrem einjährigen Sohn Hayato wohnt sie in Haramachi, einem der bewohnbaren Stadtteile. Während ihrer Schwangerschaft war Abe wie viele andere geflohen, kurz nach der Geburt kam sie zurück. Ihr Mann gehört zu den Glücklichen in der Kommune, die ihre Arbeitsstelle behalten haben. Das neu gebaute Haus ist noch lange nicht abbezahlt. "Wir wollten als Familie zusammen bleiben", erklärt Abe ihre Entscheidung.

Aber viele ihrer Freunde sind geflohen, gerade diejenigen mit kleinen Kindern. Auch Abe macht sich Sorgen um die Gesundheit ihres Sohnes. Zwar sei verstrahlte Erde von den Spielplätzen der Region entfernt worden. "Aber sobald es regnet oder Wind weht, ist die Strahlung wieder da", fürchtet die junge Mutter. Um das Risiko zu minimieren, lässt sie Hayato nicht im Freien spielen. Regelmäßig nimmt die Familie an Gesundheitstests teil. Die Ungewissheit bleibt. "Es heißt immer nur, die Resultate seien in Ordnung", berichtet Abe. "Aber wir erfahren nie, wie hoch die Strahlenwerte in unserem Blut tatsächlich sind."

Misstrauen gegen Behörden

Miharu Takamura ist mit der Informationspolitik von Ärzten und Behörden ebenfalls unzufrieden. "Man hat uns immer erzählt, die Kernkraft sei sicher", erinnert sie sich. Die dreifache Mutter und gelernte Altenpflegerin glaubt nun nichts mehr, was sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Sie entwickelte sich zur Anti-Atomkraft-Aktivistin und flog nach Tschernobyl, um sich über die langfristigen Folgen eines Gaus zu informieren.

Sie tauscht sich regelmäßig in einem Gremium mit Strahlenexperten aus und hält im In- und Ausland Vorträge zu den Ereignissen in ihrer Heimatstadt. Takamura weiß: "Bei meinen Reisen im Flugzeug bekomme ich mehr Strahlung ab als in Minamisoma."

Glück im Unglück mit dem Wind

Tatsächlich hatten die Bewohner von Minamisoma Glück im Unglück: Die Radioaktivität, die aus den Reaktorblöcken entwich, wurde von der Küste schnell landeinwärts geweht. Die Belastung in der Präfekturhauptstadt Fukushima liegt zum Teil doppelt so hoch wie in Minamisomas Stadtmitte.

Die Nachbargemeinde Iitate traf es besonders hart. Sie ist aufgrund der hohen Strahlung zur Geisterstadt verkommen. Ein Glück für Minamisoma waren auch zahlreiche Freiwillige, die nach dem Unglück anreisten und halfen, verschlammte Felder freizulegen sowie Hauswände, Vorgärten und Spielplätze von nuklearem Material zu reinigen.

Strahlender Müll liegt noch herum

"Zeitweise waren hier 500 Helfer im Einsatz", berichtet Hamana Chikako, die im Volunteer-Center der Stadt die Aktivitäten der Freiwilligen koordiniert. Als vor einem Jahr das Sperrgebiet verkleinert wurde, beseitigten sie vielerorts Rückstände der Flutwelle und Radioaktivität. Viel geholfen hat das nicht: Weil es kein Endlager für den strahlenden Müll gibt, blieb er vor den weiterhin unbewohnten Häusern liegen. An der Küste neben der beschädigten Tsunami-Schutzmauer türmen sich die Schuttberge meterhoch. Fein säuberlich von Baggern getrennt wachsen hier Betonbrocken, riesige Holzstapel und zahllose Müllbeutel in den Himmel.

Noch heute reisen Wochenende für Wochenende Dutzende von Freiwilligen an. Manche organisieren Veranstaltungen für die Menschen in Notunterkünften. Andere helfen Einheimischen, die Küste von den Hinterlassenschaften der Flutwelle zu reinigen und nach sterblichen Überresten verschollener Angehöriger zu suchen. Noch immer liegen unter den Kieselsteinen, die vor zwei Jahren den früher perfekten Sandstrand überschwemmten, Schuhsohlen, Stifte, Plastikkörbe und ganze Hausbalken begraben.

Entschädigungen entzweien Gesellschaft

Auch diese Aufräumarbeiten dürften irgendwann beendet werden, wie zuvor schon in den meisten anderen Küstenstädten. Dann werden die Bewohner Minamisomas auf sich gestellt sein. Wie sie damit zurechtkommen werden, ist ungewiss. Schon jetzt zeigt sich, dass neben den sichtbaren Grenzen im Stadtgebiet auch viele unsichtbare Grenzen existieren. Und diese haben die Bürger viel stärker entzweit, als es das Sperrgebiet jemals könnte.

Die Grenzen manifestieren sich überall dort, wo Entschädigungen des Atomkraftbetreibers Tepco fließen: "Die Zahlungen sind abhängig von Wohnort und Arbeitsplatz", berichtet Aktivistin Takamura. Jeder, der in einem Umkreis von 20 Kilometer um das Kraftwerk wohne, erhalte rund 800 Euro im Monat. Wer bis zu 30 Kilometer entfernt sei, bekomme für jedes Kind rund 400 Euro monatlich. Erwachsene sowie weiter entfernte Bewohner erhielten nichts – egal ob ihr Vorgarten verstrahlt sei oder nicht. "Für Arbeitsplätze, die im Sperrgebiet lagen, gibt es ebenfalls eine Entschädigung", so Takamura. Deren Höhe variiere allerdings je nach früherem Verdienst und Berufsgruppe.

Zahlungen werden verzockt

Neid und Missgunst sowie die Sorge um die Zukunft fordern ihren Tribut. Der Parkplatz vor der größten Spielhölle am Ort ist fast bis auf den letzten Platz belegt. Viele Leute verzocken die Entschädigungszahlungen oder investieren sie in Alkohol. Andere sind zu stolz, Geld von Tepco anzunehmen. Sie fürchten, die Katastrophe dadurch rückwirkend zu akzeptieren. Konflikte gibt es insbesondere zwischen den Landwirten. An der Frage, ob man den Reisanbau trotz Strahlenbelastung fortsetzen oder aufgeben und Tepco zur Kasse bitten soll, zerbrechen Freundschaften.

Selbst die hochfliegenden Pläne der Stadtverwaltung, auf dem vom Tsunami zerstörten Küstenstreifen den größten Solarenergiepark Japans zu errichten, drohen an Tepcos Geld zu scheitern. Einige Landbesitzer hoffen auf Entschädigung und wollen ihre fast wertlosen Grundstücke nicht verkaufen.

Zudem ist unklar, ob es genug potenzielle Arbeiter für einen Solarenergiepark gäbe. Wegen der massiven Abwanderung und Tepcos Zahlungen ist die Zahl der offenen Stellen doppelt so hoch wie die der Arbeitsuchenden. "Die Hoffnung des Wiederaufbaus ist verflogen", sagt Hamana vom Volonteer-Center. "Wir sehen nicht, wo es im dritten Jahr nach der Katastrophe hingeht." (Birga Teske aus Tokio, DER STANDARD, 9./10.3.2013)