Chirurgin Nada Loibner-Ott erklärt an der Tafel den Magen-Bypass.

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Elisabeth Jäger neun Jahre nach ihrer Operation im Jahr 2002 und um 60 Kilogramm leichter.

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Adipositas-Team im Donau-Spital.

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Untersuchung eines Adipositas-Patienten nach einer Magen-OP.

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Es gab eine Zeit, in der Stephanie* mit dem Leben schon abgeschlossen hatte. "Es war kein Leben mehr. Mit unter 30 Prozent Lungenfunktion und 134 Kilo willst du nicht mehr weitermachen", erzählt sie. "Ich habe nicht mehr überlegt, ob, sondern nur mehr, wie."

Im letzten Moment stieß Stephanie auf den Notruf einer Selbsthilfegruppe und landete auf dem Privathandy von Elisabeth Jäger. In den nächsten zwei Stunden erfuhr sie, dass es ein radikales, aber wirksames Mittel gegen die Adipositas gibt: eine Magenoperation. "Da habe ich gedacht, es gibt vielleicht doch noch eine Chance. Und es gab sie."

Schwergewichtige Vergangenheit

Wenn man Stephanie, schlank und gut gelaunt, heute in der Adipositas-Selbsthilfegruppe im Wiener Donauspital sitzen sieht, würde man nicht glauben dass sie jemals mit Übergewicht zu kämpfen hatte. Auch den anderen sieben Frauen, die heute gekommen sind, ist nichts anzumerken. Die meisten haben ihre Operation längst hinter sich und hinterher viel an Gewicht verloren. So auch Elisabeth Jäger, die 2002 kurz nach ihrer eigenen Magenband-Operation die erste Selbsthilfegruppe für krankhafte Fettleibigkeit gründete.

Damals, im Jahr 2002, wog Jäger 148 Kilogramm und arbeitete als Notfallsanitäterin. Elf Jahre und zwei Operationen später ist sie um 60 Kilogramm leichter und Vereinspräsidentin von 30 Adipositas-Selbsthilfegruppen in ganz Österreich. Sie bereist regelmäßig die Bundesländer, ist eng mit Spitälern und Chirurgen vernetzt und organisiert regelmäßig Treffen von Betroffenen für Betroffene. "Adipositas wird ein immer größeres Problem", sagt Jäger. "Es ist zwar eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte Krankheit, wird aber immer noch als Charakterschwäche, Faulheit oder Disziplinlosigkeit angesehen."

Austausch mit Gleichgesinnten

Jeden ersten Montag im Monat treffen sich Betroffene in einem Konferenzraum des Sozialmedizinischen Zentrums Ost im Donauspital, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Immer mit dabei sind neben Jäger der Lagerungstechniker Christian Harrer aus der Donauspital-Chirurgie und die pensionierte Allgemeinmedizinerin Brigitte Schulte, die sich mit 66 Jahren ebenfalls einen Magen-Bypass legen ließ.

Die Teilnehmerzahl ist immer unterschiedlich, zwischen drei und 30 Personen hat es alles schon gegeben, sagt Jäger. Das Treffen Anfang Februar ist trotz der Semesterferien gut besucht. Sieben Teilnehmerinnen sind gekommen, darunter auch drei neue Gesichter.

Schwer erreichbar

Lisa etwa stammt aus Oberösterreich, hat einen kleinen Sohn und will etwas gegen ihr starkes Übergewicht tun, solange sie noch in Karenz ist. Mit 18 Jahren wog sie noch 70 Kilogramm, danach ging es rapide bergauf. Nächtelang hat sie sich durch Internetforen gelesen, nun steht für sie fest, dass sie sich operieren lassen will. Ihr Ziel sind wieder 70 Kilogramm.

Jäger gratuliert Lisa zu ihrem Entschluss, stellt aber gleich am Anfang klar: "Nur ganz wenige erreichen das Idealgewicht. Mit dem Eingriff nimmt man etwa 70 Prozent des Übergewichts ab, aber nur sehr selten das gesamte. Und das Schlimmste, was passieren kann, ist, daran zu sterben - das muss man ganz beinhart sagen."

Das kommt jedoch nur in rund 0,5 Prozent aller Fälle vor, außerdem sei das Leben mit dem Übergewicht nicht weniger riskant, erklärt Jäger: "Das Risiko, daran zu sterben, liegt beim Zehnfachen gegenüber einem Normalgewichtigen."

Es herrscht Schweigen in der Gruppe, bevor Stephanie ergänzt: "Wenn einer bei einer Operation stirbt, dann geht das durch alle Medien. Aber umgekehrt stellt sich die Frage: Wie viele Menschen sterben an ihrem Übergewicht? Da steht dann 'Herzinfarkt' oder 'Schlaganfall'. Sie sterben leise, und die Leute sagen: Eh klar, der war blad."

Leichen im Keller

Auch seien mit einer Operation keinesfalls alle Probleme gelöst, sagt Stephanie: "Die Leichen, die du im Keller hast, bleiben drinnen liegen, die werden nicht wegoperiert. Dein Chef ist immer noch derselbe, zu Hause wartet immer noch dein Mann auf dich. Die Gesundheit bessert sich jedoch schlagartig. Man wird selbstbewusster, kantiger, eckt häufiger an, lässt sich nicht mehr so viel gefallen." Und, am wichtigsten: "Nach der Operation bekommt man endlich ein normales Verhältnis zum Essen. Es beherrscht nicht mehr das ganze Leben."

Auch sei es ein unglaubliches Gefühl, zum ersten Mal wieder Rad zu fahren, zu laufen oder eine Rutsche hinunterzurutschen, erzählt Jäger. "Keine Probleme mehr im Flugzeug-WC. Nie mehr nachdenken, ob der Sessel passt. Sich leichter, lieber und dadurch auch viel mehr bewegen. Das ist ein ganz anderes Leben."

Die entscheidende Frage für Lisa ist, wo man sich am besten operieren lassen soll. In der Gruppe fallen Namen von Chirurgen und Spezialkliniken in ganz Österreich, Vor- und Nachteile werden aufgezählt. Die bereits Operierten in der Gruppe sind sich einig: Für wen auch immer sie sich schließlich entscheide, am wichtigsten ist, dass sich der jeweilige Arzt viel Zeit für Vor- und Nachbehandlung nimmt. Der medizinische Standard ist, da stimmen die Betroffenen überein, in Österreich generell hoch.

Verzögertes Sättigungsgefühl

Auch Margit, Ende 50, ist zum ersten Mal da. Sie erhielt Ende September einen Magen-Bypass und hat seither 20 Kilogramm verloren. Es geht ihr gut, sie hatte nie Folgeprobleme. Einzig gewöhnungsbedürftig für sie war, dass das Sättigungsgefühl erst 15 Minuten verzögert eintritt und sie daher aufpassen muss, dass ihr nicht schlecht wird. Der Magen wurde schließlich auf einen Bruchteil seiner vorherigen Größe verkleinert. Mittlerweile ist aber auch das verzögerte Sattwerden kaum mehr ein Problem, und falls doch, können homöopathische Präparate eventuell helfen, sagt Medizinerin Schulte.

Nun will Margit auch ihre Freundin überzeugen, die heute mit in die Selbsthilfegruppe gekommen ist. Einzig wegen des Alters sei sie unsicher, sie ist schließlich schon 66 Jahre alt, und grundsätzlich wird nur zwischen 18 und 65 Jahren operiert. "Ausschlaggebend ist aber nicht das tatsächliche, sondern das biologische Alter sowie etwaige Vorerkrankungen. Wenn vom Körperlichen alles passt, steht auch mit 66 Jahren einer Operation nichts im Wege", sagt die Chirurgin Nada Loibner-Ott vom Donauspital, die mit ihrem Kollegen Philipp Patri vorbeigekommen ist, um medizinische Fragen zu beantworten.

Letzter Ausweg

Loibner-Ott legte ihren ersten Magen-Bypass als Assistenzärztin und ist heute auf Adipositas-Chirurgie spezialisiert. "Die Freitage in der Ambulanz überzeugen mich immer wieder. Dort fallen mir Patienten um den Hals aus Freude über ihre neu gewonnene Lebensqualität. Für viele war die Operation der letzte Ausweg."

Im Donauspital werden zu drei Viertel Magen-Bypässe, zu einem Viertel Magenbänder und sogenannte Sleeve-Resections operiert. "Mit dem Bypass hat man die längste Erfahrung, er gilt heute als Goldstandard. Es handelt sich zwar um eine große Operation, aber mittlerweile weiß man genau über Folgen, Risiken und etwaige Komplikationen Bescheid", sagt Loibner-Ott.

Bei der Operation wird ein kleiner Vormagen gebildet, der durch einen Bypass direkt mit dem Dünndarm verbunden wird. Der restliche Magen, der Zwölffingerdarm und ein Teil des oberen Dünndarms sind damit aus der Nahrungsaufnahme ausgeschaltet. Ein Nachteil ist zwar, dass der Darm damit Vitamine nicht mehr so gut aufnehmen kann, doch das ist mittels spezieller Tabletten und Sprays eigens für Adipositas-Operierte angeblich auch kein Problem mehr.

Enorme Umstellung

Was zu tun ist, wenn man sich für eine Adipositas-Operation entscheidet? Nach einer Voruntersuchung in der Ambulanz findet ein Gruppen-Informationsgespräch mit Ärzten statt, danach beginnen die Untersuchungen. Ein psychologisches Gutachten (meist auf eigene Kosten) wird verlangt, um auszuschließen, dass schwerwiegende psychische Störungen oder zusätzlichen Essstörungen vorliegen.

"Das ist auch gut so, Adipositas ist nämlich immer auch eine psychische Krankheit. Eine psychische Therapie neben der Operation halte ich daher für sehr wichtig - leider gibt es aber viel zu wenige Kassenplätze", betont Loibner-Ott. Die Operation selbst wird in Österreich mittlerweile, anders als in Deutschland, von der Kasse übernommen. Voraussetzung: Der Body-Mass-Index (BMI) übersteigt einen Wert von 40, oder aber er liegt über 35 und zusätzlich liegen Adipositas-assoziierte Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck vor.

Zusätzlich zum psychologischen Gutachten sind umfangreiche Blutbefunde vom Kardiologen und Lungenarzt nötig. "Für alle Untersuchungen sollte man etwa einen Monat einplanen", sagt die Chirurgin. Danach kann operiert werden - auf einen Termin warten Betroffenen im Donauspital derzeit knapp drei Monate.

Nach der Operation bleiben die Patienten mindestens vier Tage im Spital. "Der Bypass ist schließlich eine enorme Umstellung im Magen-Darm-Trakt. Viele Patienten blenden Risiken und Nebenwirkungen aus und wundern sich, wenn sie nach dem Eingriff im Überwachungszimmer liegen und Schmerzen haben. Man hört, was man hören will, und das ist fast immer nur 'abnehmen'", sagt Loibner-Ott. Deshalb sei eine umfassende Vorinformation durch die Ärzte das Um und Auf.

Gewonnene Jahre

Zwei Stunden später, es ist bereits 22 Uhr, hat sich die Runde etwas verkleinert, die Chirurgen sind schon weg, aber es wird immer noch rege über Nahrungsergänzungsmittel, veränderte Essgewohnheiten und sehr menschliche Dinge wie Blähungen und Stuhlgang nach der Operation disktuiert. "In der Selbsthilfegruppe gibt es keine  Geheimnisse", schmunzelt Elisabeth Jäger.

Dazwischen wird es immer wieder emotional und sehr persönlich. Etwa als Jäger erzählt, warum sie sich 2002 für eine Operation entschieden hat: "Bevor mich meine Kinder eines Tages im Rollstuhl pflegen müssen, ist es besser, ich sterbe bei der OP. Da habe ich wenigstens versucht, etwas dagegen zu tun."

Mit zwei Operationen, einem Magenband 2002 und einem Magen-Bypass 2008, schaffte sie es von etwa 150 auf weniger als 90 Kilogramm Körpergewicht herunter. Dadurch konnte sie eine überfällige Knieoperation hinauszögern ("Zehn gewonnene Jahre"), und auch ihr Asthma ist heute kein Problem mehr. Ganz zu schweigen von der neu erlangten Lebensqualität. Und schließlich fand sie so auch zu ihrer Berufung, nämlich andere Menschen auf ihrem Weg aus der Fettsucht zu begleiten.

Zum Überleben

Jäger glaubt, dass Adipositas in Zukunft ein noch größeres Problem sein wird. "Die Lebensmittelindustrie hat eine unglaubliche Palette an Produkten zum Abnehmen. Wir Dicken sind so ein riesiger Wirtschaftsfaktor, das ist irre. Darum werden wir diskriminiert und unzufrieden gemacht, so dass wir immer neue Produkte zum Abnehmen kaufen. Aber der Jojo-Effekt lässt grüßen", sagt sie. Und dieser ist für sie auch leicht erklärbar: "Anders als ein Raucher oder Alkoholiker musst du täglich dein Suchtmittel zu dir nehmen, um zu überleben."

In den vergangenen elf Jahren hat Jäger unzählige Adipositas-Kranke in ganz Österreich beim Wunsch nach einer Operation begleiten können, nur ihre eigene Schwester blieb bis zuletzt stur. Sie ist schließlich mit 250 Kilogramm an Multiorganversagen gestorben. "Der Prophet gilt im eigenen Land halt nichts. Ich habe hunderten oder tausenden Menschen geholfen, aber meine Schwester hat nicht auf mich gehört. Sechs Wochen bevor sie gestorben ist, hat sie gesagt: 'Ich war nicht so mutig wie meine Schwester.'" Da war es zu spät. (Florian Bayer, derStandard.at, 12.2.2013)