Wal-Trainerin Stéphanie dirigiert große Tiere: Marion Cotillard in Jacques Audiards "Der Geschmack von Rost und Knochen", einer der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten des Jahres. 

Foto: Polyfilm

Wien - Jede kleine Bewegung in diesem Film tendiert zur großen Geste. Wenn Stéphanie in einem Themenpark an der Côte d'Azur ihre Vorführung mit Killerwalen beginnt, sind es zunächst kaum wahrnehmbare Handzeichen, die von den Orcas registriert werden. Bis mit der lauter werdenden Musik auch ihre Arme durch die Luft kreisen und schließlich ihr ganzer Körper zum Einsatz kommt. Eine perfekte Choreografie.

Ali, der mit seinem fünfjährigen Sohn soeben in Südfrankreich gestrandet ist, beginnt einen Job als Türsteher in einem Nachtlokal. Seine Schwester, die sich selbst durchs Leben schlägt, kümmert sich um den von Ali vernachlässigten Buben. Alis Körper ist sein einziges Kapital. Früher hat er geboxt, doch in dieser Nacht braucht er seine Kraft für einen randalierenden Gast, der Stéphanie geschlagen hat. Ali bringt sie heim. Das Blut aus der Nase tropft ihr im Auto auf die nackten Knie.

Ungleiches Paar

Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts spielen dieses ungleiche Paar, das sich zunächst wieder aus den Augen verliert. Erst später wird sie ihm erzählen, dass sie es immer genossen habe, von Männern betrachtet zu werden. Doch dann wird ohnehin alles anders sein: Stéphanie wird durch einen schrecklichen Unfall mit einem Wal beide Unterschenkel verloren haben, Ali wird sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit und ohne Empathie ihrer annehmen und der französische Regisseur Jacques Audiard eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten des Jahres erzählen.

Angesichts der bisherigen Arbeiten Audiards, der zuletzt mit dem grandiosen Gefängnisdrama Un prophète überzeugte, mag dieses Sujet überraschen. Aber bereits in den ersten Momenten von Der Geschmack von Rost und Knochen wird ersichtlich, dass Audiard in keiner Weise am melodramatischen Potenzial seiner Erzählung - einer Kompilation zweier Kurzgeschichten des Autors Craig Davidson - interessiert ist, sondern an den Auswirkungen körperlicher Versehrtheit.

Bei der ersten Begegnung kühlt Ali seine schmerzenden Finger mit Eis, am Ende stecken seine Hände in Gipsbandagen, weil er wie wahnsinnig auf die Eisdecke eines gefrorenen Sees eingeschlagen hat. Stéphanie wiederum verspürt neue Lebensfreude, wenn sie von ihm zum Schwimmen ins Meer getragen wird. Derart schafft Audiard ein effizientes Netz an Motiven, das sich manchmal - etwa wenn sich Stéphanie ein großes "Droite" auf den rechten Oberschenkel tätowieren lässt - buchstäblich in die Körper einschreibt.

Bei Stéphanie ist es der innere Kampf, dem Audiard seine Aufmerksamkeit widmet, bei Ali sind es jene Schäden, die ihm gerade aufgrund seines trainierten Körpers zugefügt werden. Er nimmt an illegalen Faustkämpfen teil, und wie schon in Un prophète inszeniert Audiard diese physische Gewalt als das, was sie ist: als ein Zufügen und Erleiden von Schmerzen, verbunden mit Angst. Das Zweckbündnis, das Stéphanie und Ali auch in sexueller Hinsicht eingehen, scheint deshalb zunächst eine Art von Selbstschutz zu sein - bis es sich zu einer Freundschaft entwickelt, aus der Liebe werden könnte.

Audiard erzählt somit auch von der unterschiedlichen Suche nach einer neuen Identität, die nur mithilfe des anderen zu erlangen ist. An seine Grenzen stößt der Film erstaunlicherweise nicht mit seinem Realismus, sondern mit seiner Erzählung - als ob diese dem Druck, dem die Figuren ausgesetzt sind, nicht standhalten kann und das Schicksal immer wieder zum Schlag ausholen muss. Deshalb bilden die schönsten Momente auch jene Sequenzen, in denen die Erzählung völlig zur Ruhe kommt: ein Blick in die Sonne, ein scheinbar schwereloser Wal im kalten Blau des Wassers, eine eingefrorene Bewegung am Strand. (Michael Pekler, DER STANDARD, 10.1.2013)