Ein Chromosom (links oben) und sein DNA-Strang. Zwei Prozent sind Gene, rund 80 Prozent dienen ihrer Steuerung.

Illu.: EMBL

London/Wien - Als die Sprecher des Humangenomprojekts 2001 die vollständige Sequenzierung der menschlichen DNA verkündeten, gab es einige Überraschungen. Zum einen zeigte sich, dass der Mensch gerade einmal rund 22.500 Gene besitzt, also weniger als etwa der Wasserfloh. Zum anderen waren die Forscher darüber verwundert, dass bloß zwei Prozent der 2,9 Milliarden Basenpaare der DNA auch tatsächlich Gene sind, deren Information mittels RNA in Proteine umgesetzt wird.

Was aber ist mit dem großen riesigen Rest? Ist das bloß Junk-DNA, also genetischer Müll, der sich im Laufe der Evolution angesammelt hat?

Um diese Frage zu beantworten, gründeten Forscher nach Abschluss des Humangenomprojekts mit ENCODE ein weiteres Großforschungsprojekt, das am Mittwoch in gleich dreißig parallel erscheinenden und vernetzten Publikationen, unter anderem in den Wissenschaftszeitschriften "Nature" und "Science", vorgestellt wird. Zudem werden auch seine wichtigsten Resultate publiziert, die ebenfalls überraschen.

Großforschung ist in diesem Fall übrigens nicht übertrieben: An ENCODE waren 442 Wissenschafter aus 32 Labors in Großbritannien, den USA, Spanien, Singapur und Japan beteiligt. Sie generierten und analysierten mehr als 15 Terabytes (15 Billionen Bytes) an Rohdaten, die nun komplett öffentlich zugänglich gemacht wurden. Dabei kamen die verwendeten Computer zusammengenommen auf eine Laufzeit von ungefähr 300 Jahren für die Untersuchung von 147 verschiedenen Gewebetypen.

Riesiger Steuerungsapparat

Das Hauptergebnis des Mammutprojekts: Die bis jetzt "dunkle Materie" im menschlichen Genom ist kein Abfall, sondern Sitz eines gigantischen Steuerungsmechanismus mit rund vier Millionen Regulierungselementen, welche die Aktivität unserer Gene regulieren. Ohne diese Schalter würden unsere Gene nicht funktionieren, und Mutationen in diesen Bereichen könnten zu Krankheiten führen.

"Dank ENCODE wissen wir nun, dass ungefähr 80 Prozent des Genoms aktiv sind", fasst Ewan Birney, verantwortlich für die Koordination der Analysen, die Ergebnisse zusammen. Damit sei "ein viel größerer Teil des Genoms als bisher angenommen aktiv daran beteiligt, wenn es darum geht, wann und wo Proteine produziert werden, statt sich lediglich um die Herstellung der Bausteine zu kümmern."

Die Arbeit sei mit der Publikation indes noch lange nicht zu Ende, erklärt Brendan Maher, der für "Nature" die Ergebnisse kommentierte. Niemand wisse, wie viel mehr Informationen das Genom in den rund 180 verschiedenen Zelltypen noch bereithalte. Bis zu einem umfassenden Handbuch sei es noch immer ein weiter Weg.

Immerhin: "Jetzt haben wir eine interaktive Enzyklopädie, auf die jeder zugreifen kann - das ist ein großer Fortschritt", sagt der spanische ENCODE-Mitarbeiter Roderic Guigó stolz. Was wiederum bedeutet, dass die Daten von ENCODE ab sofort von jedem Wissenschafter zur Erforschung von Krankheiten verwendet werden können. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, 6. 9. 2012)