Der Onkologe Christoph Zielinski: "Die Verabreichung einer Krebstherapie genügt nicht, sie muss auch vertragen werden."

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Der heilige Martin teilt seinen Mantel. "Die kleine Hälfte vom ohnehin schon kleinen Mantel wird niemanden warm halten. Aber helfen wird es trotzdem", sagt Christoph Zielinski.

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Was bedeutet die Diagnose Metastasen? Das Ende des Lebens oder doch noch eine Chance auf Lebensqualität? Was die moderne Medizin bewirken kann und was man dafür in Kauf nehmen muss, erläutert der Krebsexperte Christoph Zielinski.

derStandard.at: Jeder zweite Mensch erkrankt einmal in seinem Leben an Krebs. Jährlich sind in Österreich mehr als 40.000 Personen mit der Diagnose Krebs konfrontiert und 20.000 sterben an einer Tumorerkrankung. Wie viele Menschen leben derzeit mit Krebs? Wie viele mit Metastasen?

Zielinski: Das ist nicht erfasst, aber es handelt sich mit Sicherheit um hunderttausende Menschen in Österreich, die direkt oder auch indirekt, etwa durch die Erkrankung von Familienmitgliedern oder Freunden, davon betroffen sind. Das ist keine Kleinigkeit.

derStandard.at: Noch in den 1990er-Jahren waren Metastasen ein Todesurteil binnen kurzer Zeit. Was hat sich seit damals verändert?

Zielinski: Nierenkrebsmetastasen haben zum Beispiel früher in kürzester Zeit zum Tod geführt. Jetzt sehen wir die Patienten Jahre in einer relativ hohen Lebensqualität leben, bei guter Beherrschung der Nebenwirkungen.

Die Verabreichung einer Krebstherapie genügt nicht, sie muss auch vertragen werden. Es ist heute möglich, Therapien anzubieten, die früher massive Nebenwirkungen verursacht haben. Die Nebenwirkungen haben sich zwar nicht geändert, aber wir haben eine Vielzahl an neuen Medikamenten, die gegen wahrscheinliche Nebenwirkungen wirken und die wir frühzeitig einsetzen. Damit können wir weitgehend ermöglichen, dass die Patienten ihre Therapie "durchziehen" können.

Darüber hinaus können wir Erkrankungen im Umfeld des Krebses, die früher bei den Patienten interkurrent zum Tod geführt haben, heute gut behandeln. Hier ist die Sterblichkeit durch unser Augenmerk auf interdisziplinäre Arbeit zurückgegangen.

derStandard.at: Die Chemotherapie muss also nicht mehr wegen Übelkeit abgebrochen werden?

Zielinski: Die Therapie der Nebenwirkungen und ihre Effektivität sind unterschiedlich: Übelkeit bekommen wir heute bei etwa 90 Prozent der Patienten in den Griff, Schleimhautveränderungen und Haut-Toxizitäten können wir bereits im Vorfeld mit Salben gut behandeln, hingegen können wir bei Gefühllosigkeit in Händen und Füßen nicht viel tun.

Im Hinblick auf die Reduktion der Zahl der Blutkörperchen durch Chemotherapie können die weißen Blutkörperchen mittels Medikamenten gut kontrolliert werden. Bei den Blutplättchen (Thrombozyten) ist das noch nicht der Fall. Alles in allem können wir aber die Nebenwirkungen gut beherrschen - manche besser, manche schlechter.

derStandard.at: Was muss man bei einem Leben mit Metastasen auf sich nehmen?

Zielinski: Man kann mit Metastasen durchaus Lebensqualität haben, ich gebe aber zu bedenken, dass der Mensch sehr sensibel angelegt ist. Sobald eine Kleinigkeit nicht in Ordnung ist, beginnt er schwerstens daran zu laborieren. Man braucht sich nur an einem Papierblatt am Finger zu schneiden, und das ganze Wohlbefinden ist dahin.

derStandard.at: Würden Sie sagen, dass man eine gute Lebensqualität haben kann?

Zielinski: Die Lebensqualität der Patienten steht bei der Behandlung von Krebs und Metastasen immer im Vordergrund. Wir gehen in der Krebsbehandlung davon aus, dass Schmerz mit menschlicher Würde nicht vereinbar ist. Natürlich kann nicht jeder Schmerz sofort beseitigt werden, aber die Tendenz muss sein, dass man die Patienten unterm Strich möglichst schmerzfrei hält. Natürlich würden wir uns wünschen, dass wir den Patienten noch mehr Lebensqualität geben können.

derStandard.at: Sind Metastasen automatisch mit Schmerzen verbunden?

Zielinski: Wenn die Metastasen größer werden, gibt es natürlich Symptome: Gelbsucht bei der Leber oder Atemnot bei der Lunge. Aber Metastasen müssen nicht unbedingt mit Schmerzen einhergehen.

derStandard.at: Kann man mit einer Schmerztherapie leben, ohne dass man im Bett dahindämmert?

Zielinski: Ja, man gewöhnt sich meist innerhalb von 24 Stunden an die neuen Schmerzmittel und kann mit ihnen ein weitgehend normales Leben führen.

derStandard.at: Stichwort "normales Leben": Kennen Sie Patienten, die mit Metastasen arbeiten gehen?

Zielinski: Unendlich viele. Hier liegt nicht die Schwierigkeit. Es kommt natürlich auf die konkrete Erkrankung und die Beschäftigung an. Jemand, der Knochenmetastasen hat, kann wahrscheinlich nicht länger seiner Tätigkeit als Staplerfahrer nachgehen.

Es kommt darauf an, was der Mensch letztlich will. Es gibt Patienten, die sagen: "Wenn ich Metastasen habe, arbeite ich weiter, und mein Leben wird sich trotzdem nicht maßgeblich ändern." Andere hören auf und arbeiten nie wieder. Manche Menschen definieren sich über die Arbeit und wollen das möglichst lange aufrechterhalten, um Sinn im Leben zu finden, andere nehmen ihre Erkrankung auch als Gelegenheit zur Persönlichkeitsfindung wahr und machen ganz etwas anderes - Malen, Schreiben etc.

derStandard.at: Können Metastasen wieder verschwinden?

Zielinski: Sie können kleiner werden und verschwinden. Das ist unser Ziel. Betroffene müssen allerdings bedenken, dass sie es mit einer chronischen Erkrankung zu tun haben. Das heißt, die Metastasen können immer wieder kommen.

derStandard.at: Heißt das, dass man mit Metastasen auch alt werden kann?

Zielinski: Na ja, alt kann man nicht werden, aber älter. Man kann länger und auf jeden Fall besser damit leben als früher.

derStandard.at: Ein längeres Leben mit einer chronischen Erkrankung geht auch mit höheren Kosten für das Sozialsystem einher. Kann der Sozialstaat die Behandlung von immer mehr Menschen, die mit Krebs leben, bezahlen?

Zielinski: Der soziale Aspekt ist eine unserer großen Sorgen. Aber wer sind wir, dass wir sagen: "Ein pflegebedürftiger Mensch ist kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft"? Das ist er sehr wohl und er kann durchaus glückliche Momente genießen. Der Mensch ist ein komplexes Individuum und deshalb sind einfache Antworten auf komplexe Fragen nicht angebracht.

derStandard.at: Oft treten Metastasen erst Jahre nach der ursprünglichen Tumorerkrankung auf, und die Ärzte kommen nicht auf die Idee, dass es sich bei den vom Patienten geschilderten Symptomen um Metastasen handelt. Werden sie zu spät erkannt? Sind Ärzte zu wenig darauf sensibilisiert?

Zielinski: Auch wenn Krebserkrankungen allgemein häufig sind, sind sie für den einzelnen Arzt nicht unbedingt häufig, sondern meistens sogar selten, weil Krebserkrankungen meistens in Zentren behandelt werden. Wenn ein Arzt die Vorgeschichte nicht kennt, wird er kaum auf die Idee kommen, da die Patienten mit anderen Erkrankungen überwiegen.

Bei der chronischen Metastasenerkrankung steht die Früherkennung nicht so sehr im Vordergrund wie bei der Tumorerkrankung. Für die Therapie spielt es keine große Rolle, ob drei oder vier Metastasen da sind.

derStandard.at: Muss jeder Mensch, der einen Tumor hatte, mit Metastasen rechnen?

Zielinski: Je nach Art der Tumorerkrankung bekommt ein gewisser Prozentsatz der Patienten Metastasen. Bei manchen Erkrankungen gibt es ein höheres Risiko für Metastasierungen, zum Beispiel wenn viele Lymphknoten in der Nähe des Tumors liegen und von diesem involviert werden.

Die beste Maßnahme gegen Metastasen ist die Vorsorge, so dass sie erst gar nicht entstehen. Deshalb praktizieren wir eine Metastasen-Entstehungsprophylaxe, indem wir eine sogenannte "adjuvante" Therapie im Frühstadium der Erkrankung verabreichen.

derStandard.at: Was sind überhaupt Metastasen?

Zielinski: Metastasen sind das Ergebnis dessen, dass Tumorzellen ihren Zusammenhalt verlieren, Tumorzellen sich loslösen, an andere Stellen des Organismus einwandern und dort wachsen. Wenn eine Patientin also Metastasen vom Brustkrebs in den Knochen hat, dann hat sie nicht Knochenkrebs, sondern Brustkrebs, der in die Knochen gestreut hat.

derStandard.at: Lassen sich Metastasen operieren?

Zielinski: Manche operiert man, manche nicht. Zum Beispiel lassen sich Lungenmetastasen bei einem Sarkom relativ einfach entfernen. Wenn Patienten mit Lebermetastasen von einem Dickdarmkarzinom zu uns kommen, geben wir häufig eine Vorlauftherapie, und wenn die Metastasen dann verkleinert und anatomisch gut dafür lokalisiert sind, entfernen wir sie dann. Die Überlebenschance bei der Entfernung ist deutlich höher, als wenn eine solche Entfernung nicht möglich ist. Aber jede Erkrankung ist anders.

derStandard.at: Wie gehen Sie mit der Komplexität dieser Erkrankung um, und was ist Ihre persönliche Einstellung zum Krebs?

Zielinski: Krebs bricht in das Leben ein. Plötzlich ist die Selbstbestimmtheit nicht mehr gegeben. Fremdbestimmtheit tritt ein: von den Chemo-Terminen über die Untersuchungen bis hin zur Pflege. Ich empfinde das als etwas sehr Schwieriges, Substanzielles.

Wir leben so, als ob alles immer so weitergehen würde. Dann kommt eine Erkrankung daher, die uns - wie wenige andere - unser Ende vor Augen führt uns auf das Minimum dessen reduziert, was man als Mensch ist. Das geht mit Kontrolle und Machtverlust einher und führt uns die Relativität unserer Existenz in der Zeit vor.

derStandard.at: Was können Sie als Mensch und Mediziner Ihren Patienten geben?

Zielinski: Ich kann meinen Patienten ihr Schicksal nicht abnehmen, aber ich kann es erleichtern. Kennen Sie das Bild "Der heilige Martin und der Bettler" von El Greco? Martins Mantel ist relativ klein, und beiden Beteiligten am Bild dürfte klar sein: Die kleine Hälfte vom ohnehin schon kleinen Mantel wird niemanden warm halten. Aber helfen wird es trotzdem. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 5.4.2012)