Menschen empfinden in ähnlichen gesundheitlichen Situationen Schmerzen auf unterschiedlich intensive Art und Weise, und das gleiche Schmerzmittel wirkt bei manchen Menschen sehr gut und bei anderen kaum.

Wissenschaftler suchen jetzt im menschlichen Erbgut nach Gründen für diese individuellen Unterschiede in der Wahrnehmung von Schmerzen und der Reaktion auf Therapien. 

Individuelle Unterschiede im Schmerzempfinden

"Einer der Gründe liegt in der Komplexität des Schmerzes und der Variationsbreite des menschlichen Genoms", sagte Jörn Lötsch vom Institut für Klinische Pharmakologie, Klinikum und Fachbereich Medizin, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/Main beim 16. Internationalen Wiener Schmerzsymposium. "Dass wir diese Mechanismen immer besser verstehen, eröffnet erstmals die Perspektive, in Zukunft für die unterschiedlichen Genotypen maßgeschneiderte Therapien und Präventionsprogramme zur Verfügung zu haben."

Die genetische Forschung erklärt individuelle Unterschiede in Schmerzempfinden und -therapie
Bei der Entstehung und Wahrnehmung von Schmerz wirken viele Einflüsse zusammen - von früheren Schmerzerfahrungen bis zur sozialen Situation oder der Einstellung dem Schmerz gegenüber.

Doch es zeigen sich große individuelle Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung oder der Wirksamkeit von Analgetika, die die Wissenschaft zurzeit näher untersucht.

Ansätze für ein neues Verständnis

Neueste Erkenntnisse der Genforschung bieten hier Ansätze für ein neues Verständnis. Jörn Lötsch: "Es gibt in der breiten Bevölkerung nicht ein spezielles 'Schmerz-Gen‘, sondern wir wissen zurzeit von 400 - 500 Genen, dass sie mit der Schmerzwahrnehmung zusammenhängen. Hier kommt es zu einem komplexen Zusammenspiel. Bestimmte Eigenschaften des Erbguts können dafür sorgen, dass die Produktion schmerzverstärkender oder schmerzhemmender Botenstoffe oder die Aufnahme von Wirkstoffen und ihre Verarbeitung im Stoffwechsel individuell mehr oder weniger stark ausgeprägt werden."

Lötsch weiter: "Es gibt Menschen, die aufgrund erblicher Prägung besonders schmerzunempfindlich oder schmerzempfindlicher sind als andere. Zum Beispiel ist bekannt, dass die genetische Variante, die für rotes Haar verantwortlich ist, bei Frauen mit einer stärkeren Wirkung bestimmter Opioide verbunden ist. Es gibt auch Erkenntnisse über genetisch veränderte Opioidrezeptoren, über die Opioide ihre Wirkungen entfalten, die bei manchen Patienten zu einem höheren Bedarf an Opioiden führen."

Epigenetik für Unwirksamkeit von Therapien verantwortlich

Als Faktoren, die das Schmerzempfinden und das Ansprechen auf Medikamente beeinflussen können, fanden die Forscher aber nicht nur Abweichungen in der Genetik, also der Reihenfolge der Basenpaare in der DNA, sondern auch in der sogenannten Epigenetik. Darunter verstehen Wissenschaftler Veränderungen der DNS, die durch Umwelteinflüsse wie Lebensstil, Chemikalien oder Nahrungsmittel bewirkt werden und auch sogar vererbt werden können.

"Diese Faktoren haben wahrscheinlich einen ähnlich großen Einfluss wie die genetischen Faktoren", so der Experte. "Beides, Genetik und Epigenetik, trägt zur Erklärung bei, warum manche Schmerzpatienten von prinzipiell wirksamen Therapien im Einzelfall nicht profitieren."

Gezieltere Prävention, maßgeschneiderte Medikamente

Die neuen Einsichten aus der Erforschung des menschlichen Erbguts eröffnen auch völlig neue Möglichkeiten in der Behandlung. So könnten sich bestimmte genetische Faktoren als Risikofaktoren für lang anhaltende oder chronische Schmerzen erweisen, was zu einer verbesserten Prävention und einer individualisierten Therapie führen könnte.

"Die Einbeziehung genetischer Unterschiede in pharmakologische Studien könnte deren Ergebnisse wesentlich aussagekräftiger machen", weiß Jörn Lötsch. "Statt lediglich herauszufinden, wie viele Menschen auf den Wirkstoff ansprechen, könnte sich zeigen, für welche genetischen Typen von Patienten/-innen die Substanz geeignet ist und für welche weniger oder nicht." 

Speziell geeignete Medikamente und Therapien

Aus diesen Erkenntnissen wiederum könnten in der Zukunft für jeden Genotyp speziell geeignete Medikamente und Therapien entwickelt werden, wobei, z.B. psychosoziale Faktoren oder die Verordnungstreue sicherlich ebenso einbezogen werden müssen.

Denkbar wäre auch die Entwicklung von Therapien, die die Ablesbarkeit von Genen verändern und so dafür sorgen könnten, dass schmerzhemmende körpereigene Stoffe vermehrt gebildet oder schmerzsteigernde ausgeschaltet werden. "Die Einbeziehung genetischer und epigenetischer Faktoren in Medikamentenstudien kann die Entwicklung von Analgetika wesentlich verbessern", so Lötsch. (red, derStandard.at, 12.3.2012)