Cyril (Thomas Doret) sucht seinen Vater.

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Er ist der Held des Films von Jean-Pierre (r.) und Luc Dardenne.

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Bert Rebhandl traf die Regisseure zum Gespräch.

Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien nehmen im europäischen Autorenkino eine ganz besondere Position ein. Sie gehen in ihren Geschichten von starken Figuren aus, deren Stärke aber häufig unmittelbar mit Situationen der Ohnmacht zusammenhängt. So ist es auch bei Cyril, der Hauptfigur ihres neuen Films Der Junge mit dem Fahrrad. Vom Vater verlassen, tut er alles, um diesen wiederzufinden - mit potenziell tragischen Konsequenzen. Wie gewohnt haben die Brüder Dardenne diese Geschichte mit einer sehr beweglichen Kamera gefilmt, der Eindruck großer Unmittelbarkeit ist auch hier ihr Markenzeichen. Im Gespräch wird aber deutlich, welche Arbeit hinter diesem Eindruck steckt.

STANDARD: "Der Junge mit dem Fahrrad" trägt diesen Titel völlig zu Recht. Selten sieht man einen Film, in dem ein Gegenstand so vielfältige erzählerische Bedeutung gewinnt. In welchem Stadium des Projekts haben Sie begriffen, dass Cyril nicht "allein" sein konnte?

Jean-Pierre Dardenne: Sofort. Thomas Doret, der den Cyril spielt, hatte ein Fahrrad dabei, als er zu uns kam. Es war uns gleich klar, dass es genau das zum Ausdruck bringen würde, worum es uns bei dieser Figur ging: um eine bestimmte Unbedingtheit, eine untergründige Gewalt.

STANDARD: Sie sagen: als Thomas zu uns kam. Das klingt so, als hätte der Film mit einer Begegnung begonnen?

Jean-Pierre Dardenne: Der Film hat als eine Geschichte begonnen, die man uns in Japan erzählt hat. Ein Vater gab seinen halbwüchsigen Sohn in einem Waisenhaus ab und ließ ihn mit dem Versprechen zurück, ihn eines Tages abzuholen. Er kam aber nie wieder, und der Sohn hat vergeblich gewartet. Über Jahre hinweg haben wir versucht, daraus ein Drehbuch zu machen. Wir sind nicht gut vorangekommen, weil wir nur diese Geschichte umsetzen wollten. Mit Thomas erst kam die Geschichte in Bewegung. Wir haben dann aus einem anderen Projekt die Figur von Samantha hinzugefügt. Erst so stellte sich die Frage des Films neu: Könnte die Liebe dieser Frau dieses Kind, den "Soldaten" Cyril retten? Der japanische Junge geriet in eine Bande und wurde zum Mörder. Das Kino hat hier nach einer anderen Variante gesucht.

STANDARD: Und zwar aufgrund eines Umstandes, den man in vielen Ihrer Filme finden kann: ein kleines, modernes Wunder. Eine zufällige Berührung reicht, dass diese Friseurin Samantha (Cécile de France) sich auf diesen ungebärdigen Jungen einlässt.

Luc Dardenne: Ja, sie wird berührt. Das ist eine körperliche Erfahrung, aber auch eine emotionale. Sie lässt die Geschichte beginnen.

STANDARD: Hat Thomas selbst ähnliche Erfahrungen gemacht wie Cyril, den er spielt?

Jean-Pierre Dardenne: Nein, man kann nicht sagen, dass er vergleichbare Erfahrungen gemacht hat. Aber seine ganze Persönlichkeit hat perfekt gepasst: wie er sich bewegt, wie er seinen Kopf hält, wie er rennt - das alles haben wir beobachtet, und das war genau das, was uns überzeugte. Unser Problem war es, das einzufangen, ohne dass er in eine Pose verfällt, ohne dass er etwas "für uns" macht. Wir haben gedreht und niemals gesagt: Das war gut oder nicht gut. Wir haben ihm sicher viel gestohlen, aber wir wollten ihn einfach in seinem Sein zeigen. Er ist eher ein unbewusster als ein bewusster Schauspieler.

STANDARD: Die Wahl der Orte scheint für Sie fast genauso wichtig zu sein wie die Darsteller. Zum Beispiel das Restaurant, in dem Cyril seinen Vater stellt - ist der Drehort auch eine Figur?

Luc Dardenne: Ja, schon das Drehbuch denkt an konkrete Orte. Aber das Restaurant mussten wir erst finden: Die Mauer, über die Cyril klettert, die mussten wir bauen lassen, aber das Innere mit dem Aufzug, mit den verwinkelten Gängen, den "Schikanen", und mit der Küche, das passte uns ausgezeichnet. Denn wir konnten durch diese Beengtheit die Beziehung zwischen Vater und Sohn so zeigen, als hingen sie beide an einem unsichtbaren Faden. Ihre Bewegungen hingen voneinander ab. Wenn der Junge sich umdrehte, musste der Vater sich auch umdrehen. Und in der Mitte dieser Sequenz gibt es einen Moment der Ruhe in der Küche. Die beiden rühren einmütig in den Töpfen, sie teilen diesen Raum, und für diese Einstellung sind wir ein wenig weiter weg gegangen, um ihnen diesen Raum zu lassen.

STANDARD: Auffällig ist, dass Sie die Abwesenheit der Mutter nicht einmal nebenbei thematisieren.

Jean-Pierre Dardenne: Wenn es eine Mutter gegeben hätte, dann hätte diese Geschichte so nicht geklappt. Wir hatten ja eine Version, in der das noch vorkam. Man muss da aber gar nicht explizit sein, was mit ihr geschehen ist. Sie ist nicht da, das ist alles. Nur die Großmutter wird erwähnt.

STANDARD: Der Einsatz eines berühmten Klavierkonzerts von Beethoven fällt auf. Wollten Sie dem Film eine musikalische Form geben - mit dem letzten Teil als Coda?

Jean-Pierre Dardenne: Das könnte so wirken, das stimmt. Aber wir bauen unsere Geschichten nicht so. Wir sind von dem Faktum ausgegangen, dass es gegen Ende noch eine Person gibt, die mit Cyril eine Rechnung offen hat, die eine Entschuldigung von ihm nicht annimmt. Das konnte man nicht so offenlassen, dieses Moment der Rache, der Gewalt, musste noch einmal zu spüren sein, dieser andere Junge hat ganz unmittelbar den Wunsch, ihn zu töten.

STANDARD: Sie fertigen Ihre Filme gemeinsam - das führt unweigerlich zur Frage: Wer macht was?

Luc Dardenne: Wir machen immer alles gemeinsam, erst kurz bevor die Kamera läuft, trennen wir uns. Unsere Arbeit beruht ja zu einem wesentlichen Teil auf Proben. Wir probieren vorher schon einmal Monate mit den Schauspielern, und wir probieren auch am Drehtag zuerst noch ziemlich lang ohne Kamera. Dann erklärt einer das Bild der Technik, und einer von uns stellt sich zur Videoausspielung. Dort treffen wir uns dann wieder, dort diskutieren wir, ob wir noch eine weitere Aufnahme brauchen. Oft ist es schwierig, der Kamera zu folgen, weil die Räume häufig nicht groß sind.

STANDARD: Sie sprechen bei "Der Junge mit dem Fahrrad" von einem Märchen, und tatsächlich haben die meisten Ihrer Filme seit "Rosetta" etwas Elementares - als ginge es grundsätzlich um die Spannung zwischen der Natur und dem Sozialen. Was ist denn stärker?

Jean-Pierre Dardenne: Die Natur kommt bei uns ganz konkret immer wieder vor. Der Wald ist ein Ort des Bösen.

Luc Dardenne: Die Natur hat auch etwas Mütterliches. Wir haben immer versucht, die Figuren gegen das Schicksal angehen zu lassen, das ist sicher. In allen unseren Filmen gibt es einen Widerspruch zwischen Individuum und Schicksal, aber es gibt immer Begegnungen, die es erlauben, sich vom vorgezeichneten Weg zu entfernen. Einen Schritt zur Seite zu machen, zum Beispiel durch die Liebe von Samantha. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, Printausgabe, 7.2.2012)