"Einsamkeit kann krank machen", sagt der Arzt Cem Ekmekcioglu

Foto: Verlag edition a

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Hormon Oxytozin wird bei Berührungen freigesetzt

Foto: AP/Jens Meyer

Buch: Cem Ekmekcioglu, Anita Ericson: "Der unberührte Mensch"

Foto: Verlag edition a

Rund zwanzig Minuten täglich - so lautet die ärztlich empfohlene Dosis Körperkontakt. Der Physiologe Cem Ekmekcioglu und die Journalistin Anita Ericson erklären in ihrem Buch "Der unberührte Mensch", was es mit der Haut-Psyche-Verbindung auf sich hat und warum wir uns die nötige Dosis auch holen sollten.

derStandard.at: Warum ist Körperkontakt aus medizinischer Sicht wichtig?

Ekmekcioglu: Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass angenehmer Körperkontakt, Berührungen und Massagen zu wichtigen physiologischen Veränderungen im Körper führen können. Zum einen senken sie den Spiegel des Stresshormons Cortisol und dämpfen das Stressnervensystem, den Sympathikus. Außerdem rufen Berührungen Wohlbefinden hervor indem sie die Ausschüttung des "Kuschelhormons" Oxytozin anregen.

derStandard.at: Was bewirkt das Hormon Oxytozin genau?

Ekmekcioglu: Die Grundfunktion des Hormons ist es dem Säugling in der Stillperiode beim Saugen zu helfen. Es ist wichtig für die Bindung des Kindes an die Mutter. Außerdem wirkt es wehenauslösend bei der Geburt. Man weiß aber auch, dass durch angenehme Berührungen vermehrt Oxytozin produziert wird und in funktionierenden Partnerschaften hohe Hormonspiegel bei den Partnern gefunden wurden.

Verschiedene Areale im Gehirn, die für Gedächtnis, Gefühle und soziales Verhalten wichtig sind, weisen Bindungsstellen für Oxytocin auf. Daraus ist die Wirkung des Hormons auf Bindung, soziales Verhalten, Vertrauen, etc. erklärbar. 

derStandard.at: Gibt es zur Wirkung selbst Studien?

Ekmekcioglu: Im Rahmen von Interventionsstudien, bei denen Paare in eine Konfliktsituation hineinversetzt worden sind, hat ein Teil ein Oxytozin-Nasenspray verabreicht bekommen und ein Teil ein Placebopräparat. Jene, die das Hormon bekommen haben, waren einsichtiger, empathischer und verständnisvoller.

derStandard.at: Wie viel Berührung ist notwendig?

Ekmekcioglu: Grundsätzlich ist das von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Zwanzig Minuten pro Tag sind ein Schätzwert. Diese Empfehlung basiert auf Versuchen, bei denen Menschen massiert worden sind - mit bereits erwähnten positiven Effekten.

derStandard.at: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?

Ekmekcioglu: Männer assoziieren mit Berührungen sehr häufig auch sexuelle Annäherung. Versuche haben gezeigt, dass Männer - auch intimen - Berührungen fremder Frauen aufgeschlossener sind als umgekehrt Frauen Berührungen fremder Männer. Andererseits brauchen Frauen in intakten Beziehungen häufig mehr Berührung als Männer. Aber auch das ist sehr individuell.

derStandard.at: Kann Berührungsmangel auch krank machen?

Ekmekcioglu: Es gibt kaum Studien, die den direkten kausalen Zusammenhang untersucht haben. Man weiß aber von Einzelstudien, dass Patienten mit Essstörungen in der Kindheit unter Berührungsmangel gelitten haben. 

Über Umwege erklärt: Wir leben in einer Gesellschaft, in der es immer mehr Singlehaushalte gibt. Dass soziale Isolation krank machen kann, ist bekannt. Konkret kann Einsamkeit den Blutdruck erhöhen und es gibt Studien, dass sie das Sterblichkeits- und Demenzrisiko erhöht. Natürlich kann man Bluthochdruck nicht mit Kuscheln therapieren, aber unter Umständen können regelmäßige, angenehme Berührungen und körperliche Nähe den Blutdruck - wenigstens ein wenig - dämpfen. 

derStandard.at: Wie wichtig sind Berührungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation?

Ekmekcioglu: Ich finde es sehr wichtig. Ich stamme ursprünglich aus der Türkei, wo Berührung einen hohen Stellenwert in der Kommunikation hat. Ein Mindestmaß gehört dazu - wie jemandem die Hand zu geben. Das schafft sehr viel Vertrauen und Offenheit. Man sagt der Körper lügt nicht. 

Es gibt zahlreiche Studien von dem französischen Wissenschafter Nicolas Gueguen, die gezeigt haben, dass flüchtige - vielleicht gar nicht wahrgenommene - Berührungen, zum Beispiel am Oberarm, die Menschen kooperativer machen. Der Mensch ist ja ein soziales Wesen. Natürlich kann man das auch missbrauchen, aber in den meisten Fällen schafft es Nähe. Es kommt natürlich auch auf die jeweilige Kultur an.

derStandard.at: Durch Social Media bekommen wir mehr denn je Einblick in das Leben von Personen, die wir zum Teil gar nicht so gut kennen. Sind Berührungsängste dadurch kleiner geworden?

Ekmekcioglu: Das ist eine wesentliche Frage, die schwierig zu beantworten ist. Aber die virtuelle Berührung kann man nicht gleichsetzen mit tatsächlicher Berührung, mit persönlichen Treffen. Ich tendiere eher dazu zu sagen, dass echte Berührungen dadurch weniger werden.

derStandard.at: Inwiefern hängen Haut und Psyche zusammen?

Ekmekcioglu: Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die gezeigt haben, dass die Symptome einer bestehenden Hauterkrankung durch psychische Störungen verstärkt werden. Das wurde zum Beispiel für die idiopathische Nesselsucht aber auch andere Hauterkrankungen, wie die Schuppenflechte, beschrieben. Dass durch Berührungsmangel Hautkrankheiten entstehen, dafür gibt es meines Wissens nach keinen Beweis. Über das Nervensystem sind die Haut und die Psyche aber eng miteinander verbunden.

derStandard.at: Aus den USA nach Wien sind die so genannten Kuschelpartys gekommen und bekannt ist auch die Aktion "Free Hugs", bei der Menschen anderen Umarmungen anbieten. Brauchen wir das in unserer Gesellschaft? 

Ekmekcioglu: Das sind kurzfristige Ereignisse, die langfristig keine Lösung bringen. Meiner Meinung nach ist das Wichtigste die Qualität einer Partnerschaft zu verbessern. Bin ich in einer Partnerschaft, sollte ich Bewusstsein dafür schaffen. Das war ein wichtiger Grund, warum ich das Buch geschrieben habe. Berührungen wirken sich positiv auf die Kinder innerhalb der Familie aus und auf das Alltagsleben. 

Gesellschaftspolitisch gesehen hat das auch Effekte: Stress und das Risiko für psychische Erkrankungen werden reduziert. Bin ich Single und in keiner Beziehung sollte ich schauen, dass ich sozial aktiver werde und versuchen einen Partner zu finden. Diese Partys sind nicht jedermanns Sache, aber ist man aufgeschlossen, spricht natürlich nichts dagegen. Ich kann niemanden zwingen berührt zu werden, aber man sollte wissen: es gibt keinerlei Nebenwirkungen. (Marietta Türk, derStandard.at, 3.11.2011)