Der Psychiater Lothar Adler ist ärztlicher Direktor des Ökumenischen Hainich-Klinikums in Mühlhausen. Seit drei Jahrzehnten analysiert er Amokläufe.

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Lothar Adler, ärztlicher Leiter des Ökumenischen Hainich Klinkiums in Mühlhausen und Verfasser des Standard-Werkes „Amok, eine Studie", analysiert seit drei Jahrzehnten Amokläufe. Er fordert mehr Bewusstsein für psychiatrisches Störungen, damit das seltene Phänomen noch seltener wird.

derStandard.at: Sie beschäftigen sich seit 30 Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Amok. Was sind Ihre wichtigsten Ergebnisse?

Adler: Der wissenschaftliche Kenntnisstand über Amok ist ziemlich mies und steht in keinem Verhältnis zum öffentlichen und medialen Interesse, dass ein solches Ereignis produziert. Eine systematische Forschung existiert gar nicht, aber viele Meinungen.

Wir betreiben für unsere Amok-Studie die einzige epidimologische Untersuchung. Nach drei Jahrzehnten, in denen wir alle medial dokumentierten Amokläufe in Deutschland untersucht haben, stellen wir fest, dass soziale Faktoren keine Rolle spielen, auch das Altersspektrum zwischen 14 und Greisenalter ist gleich geblieben. Wir verzeichnen einen leichten Anstieg bei Jugendlichen. 

derStandard.at: Gibt es biologische Faktoren, die Menschen zu Amoktätern werden lassen?

Adler: Sehr vereinfacht gesagt, geht die Hypothese dahin, dass Menschen mit einem niedrigen Serotoninspiegel Impulskontrollstörungen bis hin zum Kontrollverlust erleiden. Serotonin ist das Puffersystem im Gehirn, das dämpfende Funktion zum Beispiel bei Aggression und Selbstaggression ausübt. Amokläufer erleiden letztlich den totalen Kontrollverlust, setzen alles um, was in ihren hassverzerrten Gefühlen herrscht und sollen deshalb den niedrigsten Spiegel überhaupt haben. Was zu beweisen wäre - es sind aber noch nie solche Untersuchungen bei Amokläufern gemacht worden. Die meisten sind tot, die wenigen Überlebenden haben sich geweigert.

derStandard.at: Ergäbe sich daraus eine Möglichkeit der Prävention?

Adler: Viele sind im engeren Sinne psychisch krank. Narzisstische Persönlichkeiten, psychotisch, wahnhaft depressiv, leiden unter Realitätsverkennung, Schizophrenie, es sind spektakuläre Typen, die leicht gekränkt sind, schlecht vergessen und überempfindlich sind - da staut sich viel an. Es sind Leute, die Zeitlebens nicht klar gekommen sind, sie haben Beziehung, Beruf und so weiter nicht hingekriegt. 

Die einfachste Prävention wäre also, dass man psychische Krankheiten ebenso ernst nimmt wie körperliche und sie ordentlich behandeln lässt. Es macht keinen Sinn Prophylaxe zu machen, um Amok zu verhindern. Amok ist ungeheuer selten und ein geschärftes Bewusstsein für psychiatrische Störungen und nicht wegschauen würde ihn noch seltener machen.

derStandard.at: Warum ereignen sich so viele Amokläufe im Umfeld von Schulen?

Adler: Das Durchschnittsalter von Amokläufern ist 40. Schul-Shooter gab es bisher weltweit 110 Fälle, den ersten übrigens 1923 in Polen, also auch kein neues Phänomen. Schul-Shooter ist ein Thema von Ansteckung zum Beispiel über Internet-Communities. Amok ist ein suizidales Verhalten, das an sich ansteckend ist. Die erste Suizidwelle ist zum Beispiel mit Goethes Werther durch Europa gerast. Dieses Phänomen haben auch Brücker und Häfner in Studien nachgewiesen. 

Also müssten spätestens nach großen Ereignissen die Amokläufe ansteigen, aber das tun sie nicht. Ansteigen tut allerdings die Zahl der Trittbrettfahrer, Ankündiger und Angriffe. School-Shooting heißt eigentlich Angriff auf die Schule und das beinhaltet auch den Jugendlichen, der plötzlich aus verschmähter Liebe jemanden mit dem Messer angreift. Das ist bei weitem kein Amok. Also Imitationstaten steigen an nach solchen Ereignissen, Amokläufe allerdings nicht. 

derStandard.at: Was müsste getan werden, um Früherkennung zu leisten?

Adler: Suizidgefährdete Jugendliche sind durch verstärkte Aufmerksamkeit und Sensibilität von den Lehrern vor sich selbst zu schützen. Das ist ein Kontrollmechanismus, der gut funktioniert. In Deutschland haben die Länder Spezialkommandos eingerichtet, bestehend aus Polizei und Psychologen, an die sich Schulen wenden, die Auffälligkeiten unter Jugendlichen bemerken. (Gabriela Poller-Hartig, derStandard.at, 16.12.2012)