"Ich plädiere seit Jahren für eine Antimafia-Kommission."

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Standard: Das organisierte Verbrechen, vor allem die 'Ndrangheta, hat sich in den letzten Jahren stark in Norditalien verbreitet. Warum?

Nando Dalla Chiesa: Ausschlaggebend dafür ist die Diversifikation der Tätigkeiten, die Suche nach neuen Absatzmärkten. Mailand avancierte inzwischen nach Kalabrien zum wichtigsten Stützpunkt der 'Ndrangheta. Symptomatisch für die wachsende Präsenz des organisierten Verbrechens in Norditalien ist auch, dass bereits in 120 Gemeinden in der Region Lombardei Mafia-Immobilien beschlagnahmt wurden. Dies bedeutet, dass die Lombardei nach Sizilien und Kampanien inzwischen der drittwichtigste Immobilienstandort für das organisierte Verbrechen ist.

Standard: Auf welche Tätigkeiten konzentrieren sich die kriminellen Organisationen in Norditalien?

Dalla Chiesa: An erster Stelle steht der Zementzyklus, die Bau- und Immobilienwirtschaft. An zweiter Stelle rangieren die Handelstätigkeiten, Restaurants, Pizzerien, Drogenhandel und Geldwäscherei. Die eigentliche Wachstumsbranche heißt aber Gesundheitswesen. Dieser Bereich bestreitet 80 Prozent der Bilanz der Region Lombardei.

Standard: Gibt es Beweise, dass die 'Ndrangheta in der Gesundheitsbranche Fuß gefasst hat?

Dalla Chiesa: Und ob. Im wichtigsten Gesundheitsbezirk in Mailand wurde der Direktor Pietrogino Pezzano kurz nach der Amtsübernahme wegen Verbindungen zur Mafia abgesetzt. Der ehemalige Gesundheitsdirektor in Pavia, Carlo Antonio Chiriaco, wurde zum Direktor des Gesundheitsamtes ernannt. Wenige Tage nach seinem Amtsantritt wurde auch er wegen Kooperation mit der Mafia verhaftet.

Standard: Was schlagen Sie für Mailand vor, um das Phänomen unter Kontrolle zu bekommen?

Dalla Chiesa: Ich plädiere seit Jahren für eine Antimafia-Kommission. Aber diese soll nicht nur aus Gemeinderäten bestehen, sondern auch externe Spezialisten im Kampf gegen die Mafia zu Rate ziehen. Eine entsprechende Kommission gab es bereits 1991/92, die Kommission Smiraglia. Diese hatte gute Erfolge vorzuweisen.

Standard: Sie haben mit Ihrem neuen Buch "La convergenza" großes Aufsehen erregt. Sie beschreiben darin die Beziehungen zwischen Politikern und der Mafia. Sind sie der Ansicht, dass ein eventueller Regierungswechsel dem Anti-Mafia-Kampf zugute käme?

Dalla Chiesa: Aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung habe ich gelernt, dass sich Regierungswechsel kaum auf den Antimafia-Kampf auswirken. Zweifellos ist bei der gegenwärtigen Mitte-rechts-Regierung die Verbindung zur Mafia spektakulär, aber auch bei den Mitte-links-Regierungen der vergangenen Jahre war keine echte Trendwende im Kampf gegen die Mafia zu erkennen. (Thesy Kness-Bastaroli, DER STANDARD-Printausgabe, 3.8.2011)