Die Künstlerin Nives Widauer interessiert das Pixel, das Punktraster, das alle digitalen und auch gedruckten Bilder aufschlüsselt. Auch der Vorhangstoff hinter dem die seit gut 15 Jahren in Wien lebende Künstlerin steht, ist ein vergleichbares Raster - und den Stickvorlagen nicht unähnlich.

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DER STANDARD-Schwerpunkt Thema Glück

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Wien - Feuer am Riesenrad. Halbmond auf dem Grazer Uhrturm. Ein Vulkan spuckt Lava und Aschenwolken über das romantische Salzkammergut. Frauenleichen säumen Wildwasser. Ein Gehängter trübt das Abendrot.

Heile Welt sieht anders aus. Aber ebendieser rückt Nives Widauer mit Nadel und Faden zu Leibe; sie überarbeitet alte Stickvorlagen mit Motiven zwischen Kitsch und Geschmacklosigkeit. In ihren Stickbildern mutiert Beethoven zum Rastafari, Kaiser Franz Joseph zum Punk mit pink geflammtem Irokesen und der beste Freund des Menschen zur zähnefletschenden Bestie. Das Schlechte lauert hinter dem nächsten Heustadl, wo sich Bruder und Schwester miteinander vergnügen, oder kratzt an touristischen Wahrzeichen.

Für das Zersetzen der Idyllen braucht es keinen ausgesprochenen Hang zu Bösartig- und Gehässigkeit, allein der Blick in die Zeitung, auf die täglichen Schlagzeilen genüge, sagt Widauer über ihre Serie der Minor Catastrophies (2008), der unbedeutenden, ja nebensächlichen Katastrophen. "Die Inspiration liegt auf der Straße", sagt die Künstlerin. Man könne sich vieles ausdenken, aber das Leben, das sei eben doch immer viel verrückter. Andererseits: Nicht jedem kommt beim Anblick eines Pferdeschädels in den Sinn, ihm einen Knochen - quasi als Ethno-Schmuck - quer durch die Nüstern zu schieben.

Glücksfunde

Angestoßen werden solche Geschichten aber auch von Fundstücken wie den Stickvorlagen, die die 1965 in Basel geborene Künstlerin auf einem ihrer Flohmarktstreifzüge entdeckte. Und in der Fabrik, die der Händler gerade auflöste, gab es noch mehr davon - auch die Druckvorlagen. Von einem "gewissen Magnetismus" und einer "Schatzsuche, in der sich die Dinge zu ihr bewegen" spricht Widauer, die schon seit ihrer Kindheit zum Trödler und auf Flohmärkte geht und Dinge findet ohne sie zu suchen.

Oft sind ihre Arbeiten das Resultat von dem, was sie selbst "nicht zielgerichtete Neugierde" nennt. Lange, manchmal zehn Jahre und länger, liegen die Sachen dann auf dem Dachboden oder in einer von vielen Laden im Atelier, bevor sie zum Material werden. Manchmal geht es auch sehr schnell: Als sie 2010 ein Bühnenbild für eine Opernproduktion in Polen machte, entdeckte sie in einer Kirche Engel mit bunten Papageienflügeln: "Wunderschön." Die Gedanken an den Papagei, den sprach- und auch tanzbegabten Freund des Menschen, schwirrten ihr bereits im Kopf. Als sie auf dem Heimweg auch noch Kalenderblätter mit den quietschbunten Quasselstrippen fand, legte sie sofort mit dem Aquarellieren los: Die vermenschlichten Vögel der Serie Lora et ses amies entstanden.

Im Fall der Stickbilder war es die Beschäftigung mit dem Bildpunkt - mit dem ältesten Pixel, dem Mosaik, und dem digitalen, wie er in den installativen Videos der Symbioscreens durch Überlagerung einen flimmernden Tanz aufführt. Und da Stickerei und Gobelins in ihren Rastern gewissermaßen auch mit Pixeln arbeiten, kamen die Stickvorlagen zu ihrem abgründigen Zweitleben.

Von den kleinen und größeren Katastrophen zu den gestickten Glücksbildern, die sie für den Standard gefertigt hat, ist es weit, findet auch Widauer. Ein Auftrag der sich allerdings logisch fügte: Erst vor ein paar Wochen habe sie gesagt, sie wolle nun viel lieber Wunder sticken. Auch privat habe sie genug Katastrophen erlebt - 2008 starb ihr Vater, ihr Sohn Florentin war schwer krank -, um sich nun lieber auf Wunder zu spezialisieren.

Paradeiserglück

Was Glück sei, liege, so wie Schönheit, im Auge des Betrachters: "Vor fünf Jahren hätte ich vielleicht nicht gesagt, dass Gesundheit das oberste Glück ist. Und in fünf Jahren könnte Glück bedeuten, dass man noch eine Tomate aus dem Garten essen kann."

Als ihr Sohn von zu Hause auszog, hat sie ihm den Vierzeiler "Drückt dich ein Weh, zur Mutter geh, sag es ihr, gern hilft sie dir" in die Lederjacke gestickt. Zum Glück sei ihr Sohn mit genug Humor für solche Schutzmantel-Handarbeiten ausgestattet, erzählt sie lachend. Glück ist für sie aber auch, "das leben zu dürfen, was ich bin. Meiner Spur zu folgen."

Ihre Spur führte die Tochter eines österreichischen Arztes, den erst der Beruf, dann die Liebe nach Basel verschlug, über ein abgebrochenes Germanistik- und Kunstgeschichtsstudium zur Kunst. Sie bewarb sich an der Kunstgewerbeschule, um sich mit ihrem damaligem Freund, einem Round-the-World-Ticket und einem Koffer voller Videokassetten erst einmal in die weite Welt zu werfen. Mit Stunden Material aus Tonga und Australien kam sie zurück und fand (statt in die Grafik) den Weg in die Videoklasse. Mit Video feierte sie auch ihre ersten großen Erfolge: 1990 gestaltete sie für das Theater Basel eines der ersten Videobühnenbilder im deutschsprachigen Raum.

Bühnenbild, Performance, Video, Fotografie, Zeichnung, Objekte, alleine und in vielgestaltigen installativen Zusammenhängen - Widauers Werk ist sehr heterogen. "Es sind für mich alles verschiedene, aber miteinander verbundene Räume - Kammern, Säle, die ich durchschreite." Ein Bild, dass sich auch in der Realität erfüllt. In ihrem weitläufigen Wohnatelier läuft man vorbei an Widauers Themen und Fundstücken. Zum Teil schlafen sie nur, wie die Damhirschgeweihe, die sie einmal aneinandermontiert als riesige Damaranka installieren will. Anderes, wie ein muschelartiges, erotisch anmutendes Stück Glasblaskunst, harrt noch seiner Wiedergeburt in neuem Kontext. Es sind Räume, an denen sich ihre Arbeiten entspinnt, die Natur, wie die Trauerweide, die sich vor ihren Fenstern wiegt, oder Dinge, die ihr nach vielen Jahren wieder in die Hände fallen. Auch Träume sind eine wichtige Inspiration: "Ich habe einen wirklich tollen Pool von Bildern und Farben im Traum" und "träume oft Lösungsansätze".

Es interessiert sie oft das Unspektakuläre, Alltägliche. Zugleich faszinieren sie seit langem Meteoriten, die "visuell unscheinbar sind, aber wenn man sich damit beschäftigt, zum spektakulärsten Ding, das man überhaupt in Händen halten kann, werden". So wie die drei kleinen, amorphen Objekte auf dem Schreibtisch: Ein Meteoritenforscher hat ihr eine ganze Kiste davon hingehalten und prüfte sie mit der Frage, ob es sich um Meteoriten handele. Die Brocken stellten sich jedoch weniger als kosmisch, sondern vielmehr als ausgesprochen irdisch heraus. Nun spielt der versteinerte Dinosaurier-Dung in Widauers neuester Arbeit eine Rolle: J-Stones - J wie Jurassic. (Anne Katrin Feßler/DER STANDARD, Printausgabe, 22./23. 6. 2011)