Robert P. Gale geht davon aus, dass auch die Arbeiter in Fukushima ihren Einsatz ohne Spätfolgen überleben werden.

Unten: Robert P. Gale bei seinem Besuch in Fukushima.

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Foto: Robert P. Gale.
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Wien - Rein äußerlich entspricht Robert P. Gale nicht unbedingt dem Bild, das man von einem international hochdekorierten Star-Mediziner haben könnte: Die Füße des vielfach ausgezeichneten Leukämie- und Strahlen-Spezialisten aus den USA stecken nackt in Holzpantoffeln, zum Interview im ehrwürdigen Gebäude der Akademie der Wissenschaften in Wien trägt er einen sportlichen blauen Strickpulli, auf dem immerhin eine Anstecknadel mit der US-Flagge angebracht ist.

Der weltweit angesehene Experte für Strahlenkrankheiten, der in Los Angeles und London lehrt, kommt gerade aus Kalifornien, um heute, Donnerstag, im Festsaal Akademie um 18 Uhr über "Tschernobyl - 25 Jahre danach" vorzutragen. Es gibt wohl niemanden, der besser als Gale berufen wäre, die gesundheitlichen Folgen des Super-GAUs in der Ukraine zu beurteilen. Schließlich wurde er damals von Michail Gorbatschow persönlich zum Leiter und Koordinator der internationalen Ärztedelegation bestellt.

Reise nach Fukushima

Ein Vierteljahrhundert später reiste Gale als Berater der japanischen Regierung nach Fukushima - und stellt gleich zu Beginn des Gesprächs mit dem STANDARD klar: "Das ist kein zweites Tschernobyl." Hätte er sich Sorgen um seine Gesundheit gemacht, wäre er sicher nicht in die Sperrzone gereist.

Dass der Mann gesundheitsbewusst lebt, glaubt man dem passionierten Ausdauersportler auf den ersten Blick. Man würde den 65-Jährigen wohl eher auf Mitte 50 schätzen. Und fast jugendlich erscheint sein Eifer, wenn es darum geht, falsche Fakten über Tschernobyl oder Fukushima mit wissenschaftlichen Argumenten zu widerlegen.

"Schädlicher als die Strahlung selbst ist die Angst vor ihr." Das war der Titel eines Essays über Fukushima, den Gale kürzlich im deutschen Nachrichtenmagazin "Spiegel" veröffentlichte und der für einiges Aufsehen sorgte. Gale, der sich seit 35 Jahren mit gesundheitlichen Strahlungsfolgen beschäftigt und Autor von über 20 Büchern und 800 Artikeln ist, hält auch im Interview die apokalyptischen Szenarien so mancher Experten für völlig übertrieben.

Das beginnt schon bei seiner Einschätzung der Tschernobyl-Folgen. Dokumentiert ist, dass nach dem Super-GAU 32 Arbeiter starben und rund 6000 Kinder und Jugendliche an Schilddrüsenkrebs erkrankten. Die oft kolportierte Behauptung, dass Tschernobyl bereits Zehntausende Krebs-Tote gefordert habe, hält Gale schlicht für Unsinn: "Laut der neuesten offiziellen Studie ist damit zu rechnen, dass innerhalb von 50 Jahren nach der Explosion in Tschernobyl insgesamt 2000 bis 15.000 Menschen zusätzlich an Krebs sterben."

Das ist allerdings so gut wie nicht nachweisbar, denn schließlich würden 80 Millionen Menschen in der EU und dem Gebiet der Sowjetunion in den 50 Jahren nach Tschernobyl ganz unabhängig vom Super-GAU an Krebs sterben. "Beruhigend ist jedenfalls, dass es in den ersten 25 Jahren nach Tschernobyl zu keiner merklichen Zunahme von Leukämie-Fällen kam."

Das sei jene Krebsart, für die der Zusammenhang mit Strahlenbelastung am besten dokumentiert sei, so der ausgewiesene Leukämie-Experte.

Wie aber kann er bereits jetzt davon ausgehen, dass Fukushima im Vergleich zu Tschernobyl noch geringere gesundheitliche Folgen haben wird? Hat nicht erst die japanische Regierung zugegeben, dass es sich - so wie bei Tschernobyl - um einen Unfall der höchsten Kategorie 7 handelt?

Gales Antworten auf solche Fragen können schon einmal fünf Minuten lang dauern. Einerseits ist er als Experte für Strahlenkrankheiten stets darum bemüht, der ganzen Komplexität des Sachverhalts gerecht zu werden. Andererseits ist er als Medienprofi um Verständlichkeit bemüht.

Gale hält fest, dass Fukushima selbstverständlich ein sehr schwerer Unfall gewesen sei, der noch länger andauern könne. "Um die gesundheitlichen Folgen zu beurteilen, geht es aber nicht um Kategorie 4 oder 7, sondern zum einen um die Menge der freigesetzten Strahlung und zum anderen um die Anzahl der Personen, die ihr ausgesetzt sind."

Die zurzeit realistischste Schätzung sei, dass in Fukushima bis jetzt 10 bis 20 Prozent der Strahlungsmenge von Tschernobyl freigesetzt worden seien. "Das ist der erste Teil der Gleichung." Im schlimmsten anzunehmenden Fall sei in etwa die gleiche Anzahl von Personen unmittelbar betroffen. Nur habe man - im Gegensatz zum Unglück in der Ukraine - schnell alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen: also Jodtabletten verteilt und die Lebensmittel auf ihre Strahlenbelastung getestet.

Risiken der Evakuierung

Das Katastrophenmanagement der japanischen Regierung ist also rückblickend ausreichend gewesen? "Es war vernünftig", sagt Gale und findet auch nichts daran, dass die Evakuierungszone erst jetzt weiter ausgedehnt wurde. "In vielen Bereichen innerhalb der Zone ist die Strahlung viel geringer als erlaubt", so der Mediziner, der auf hierzulande wenig beachtete Folgen der Evakuierung hinweist. Für die Gesundheit vieler alter Menschen sei die nämlich womöglich eine viel schlimmere Belastung. Außerdem wisse man seit Hiroshima von den psychischen und physischen Belastungen der Stigmatisierung als Strahlenopfer, die nicht zu unterschätzen sei.

Was aber wird aus den Arbeitern von Fukushima, die heldenhaft um die Vermeidung einer noch größeren Katastrophe kämpfen? Gale gibt sich auch in ihrem Fall zuversichtlich und verweist darauf, dass jeder von ihnen in seiner Schutzkleidung gleich drei Dosimeter mitträgt.

"Die Arbeiter dürfen 250 Millisievert abkriegen, dann werden sie abgezogen." Das sei ein niedriger Wert, richtige Sorgen mache er sich bei 1000 Millisievert. "Wenn also nichts schiefgeht, dann werden wir auch bei den Arbeitern hoffentlich keine Todesfälle sehen." (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 14. 4. 2011)