Japanologe Sepp Linhart: "Wenn man in Panik ausbräche, würde man das Gesicht verlieren."

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STANDARD: Nach Mitleidsbekundungen und Hilfestellungen aus aller Welt hat sich der japanische Kaiser, Tenno Akihito, noch immer nicht zu Wort gemeldet. Warum?

Linhart: Das ist eine delikate Geschichte. Zum einen ist die politische Rolle des Tenno auf die Funktion als "Symbol des Staates und der Einheit des Volkes" beschränkt. Er nimmt zu aktuellen Ereignissen selten Stellung. Man könnte ihm vorwerfen, dass er sich eine Rolle anmaßt, die ihm nicht zusteht. Zum anderen haben Sie ja mitbekommen, dass alle Behörden bemüht sind, jegliche Panikmache zu vermeiden. Wenn aber der Tenno vor das Volk tritt, wäre das eine Art Panikmache.

STANDARD: Das Verhalten der Japaner im Zuge dieser Katastrophe wird im Westen mit Verwunderung aufgenommen. Viele schreiben das stoische Verhalten der japanischen Mentalität zu. Wie sehen Sie das?

Linhart: Diese asiatische Fatalität gibt es in Japan nicht. Ich glaube, sie wissen einfach nicht, was sie tun sollen. Japan ist eine Insel. Es bleibt den Japanern nicht viel anderes übrig, als dortzubleiben. Wo sollen sie denn auch hin? Der restliche Teil Japans ist auch nicht erdbebensicher, und AKWs sind auch über das ganze Land verteilt. Vor kurzem wurde die Frage aufgeworfen, ob man Tokio evakuieren solle. Das ist doch Blödsinn! Man kann nicht Millionen Menschen evakuieren.

STANDARD: Warum aber bricht keine Panik aus?

Linhart: Das ist eine hervorragende Charaktereigenschaft der Japaner, dass sie nicht in Panik ausbrechen und Ordnung beibehalten, dass sie diszipliniert sind und sich etwa vor den Geschäften anstellen. Japan ist eine 2000 Jahre alte Zivilisation, wo sehr viele Menschen auf sehr engem Platz zusammenwohnen und die Weisen des Zusammenlebens elaboriert sind.

STANDARD: Hat diese Haltung religiöse Hintergründe?

Linhart: Das glaube ich nicht. Es gibt in Japan den Shintoismus und den Buddhismus. Wobei Shinto eine sehr lebensbejahende Religion ist, die im Alltag auch eine Rolle spielt. Der Buddhismus tut das nicht. Der Zenbuddhismus ist eine Religion, in der das Stoische, also das Ertragen, eine große Rolle einnimmt - aber wer ist schon Buddhist? Die Japaner sind ein sehr weltliches Volk.

STANDARD: Was ist es dann?

Linhart: Es ist die Gesellschaft an sich, die eine sehr große Rolle spielt. Die anderen sind wichtig. Wenn man in Panik ausbräche, würde das vor den anderen schlecht aussehen. Man würde das Gesicht verlieren. Der Historiker Aida Yuji sagte einmal, dass das Einzige, was in Japan ein Gewissen hervorbringt, die Gesellschaft selbst ist. Es ist also nicht die Religion, die diese Haltung ausmacht, es ist die Bedeutung des anderen in der Gesellschaft.

STANDARD: Wie kann ein Land, auf das zwei Atombomben geworfen worden sind, die Gefahren einer nuklearen Energieversorgung dermaßen ausblenden?

Linhart: Japan wurde im Zweiten Weltkrieg durch die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sehr gedemütigt. Nach dem Koreakrieg ging es dann wieder aufwärts, und man hat gesehen, dass Japan in der wirtschaftlichen Entwicklung zu ungeheuren Leistungen fähig ist. Man hat auf diesem Weg versucht, den Westen zu überholen. Und dazu braucht man Energie. Nun hat Japan zwar reichlich Kohlevorkommen - das ist aber eine schmutzige Energie, und Erdöl war zudem billiger. Als ich 1967 zum ersten Mal in Japan war, wurde uns voller Stolz ein Atomkraftwerk in Tokaimura, unweit von Fukushima, präsentiert. In der Folge wurde dieser Bereich kontinuierlich ausgebaut, und man hat dabei die Risiken unterschätzt, wie man jetzt sieht. Es ist aber auch lange Zeit gutgegangen. Das war damals, in den 1960er-Jahren, eine Grundsatzentscheidung, die getroffen worden ist.

STANDARD: Gab es keine Anti-Atom-Bewegung in Japan?

Linhart:: Doch, die gab es. Sie entwickelte sich aus der Studentenbewegung 1968/69 und hatte auch aufgrund von Hiroshima und Nagasaki Anhänger. Das war aber immer eine kleine Strömung. Hätte es, so wie in Österreich bei Zwentendorf, eine Volksabstimmung in Japan gegeben, wäre sie sicher zugunsten der Atomenergie ausgegangen. Im Falle Hiroshima und Nagasaki hat man die zerstörerische Kraft gesehen, und diese Kraft wollte man im Positiven nutzen, das Beste daraus machen.

STANDARD: Nach großen Katastrophen treten oft die Yakuza, die japanische Mafia, in Erscheinung. So wie nach dem Erdbeben in Kobe 1995, wo sie Decken und Reis verteilten. Ist davon auch jetzt auszugehen? Warum machen die Yakuza das überhaupt?

Linhart: Die Yakuza sind als Gesellschaften organisiert, sie treten als Firmen auf. Seit einigen Jahren gibt es eine starke Anti-Yakuza-Bewegung in manchen Geschäftsvierteln. Viele wollen nicht, dass sich die Yakuza in ihren Vierteln ansiedeln. Die Yakuza benützen solche Katastrophen für PR-Aktivitäten, um zu zeigen, dass man sich vor ihnen nicht fürchten muss. Sie agieren aber hauptsächlich in Großstädten. Wenn sich die Lage etwa in Tokio verschlechtert, könnten sie durchaus wieder in Erscheinung treten.

STANDARD: Wird diese Katastrophe Auswirkungen auf die japanische Energiepolitik haben?

Linhart: Ich glaube nicht, dass Japan aus der Atomwirtschaft aussteigen wird, weil man damit die industriellen Aktivitäten einstellen müsste. Ganz sicher wird man verstärkt Augenmerk auf die Sicherheit legen, was AKWs und den Schutz vor Tsunamis betrifft. Aber eine Änderung der Politik kann ich mir nicht vorstellen. (Heidi Aichinger/DER STANDARD-Printausgabe, 16.3.2011)