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Furcht im Schutzraum: Ein Kind schreckt durch eines der vielen Nachbeben in Tokio auf.

Foto: AP/Itsuo Inouye

Wir Bewohner Tokios sind viele Erdbeben gewohnt. Doch als die Ausläufer des Megabebens im Norden des Landes die Hauptstadt trafen, bekamen wir kollektiv Angst. Es war, als ob uns die Erde abschütteln wolle.

Ich hatte gerade die U-Bahn verlassen und stand im zweiten Kellergeschoß des Technikkaufhauses Bic Camera, als der erste Stoß kam. Fast hatte ich das Gefühl, dass mir der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Kaufhausregale wackelten. Zwar fiel nichts um, weil wir unter der Erde waren und die Ausschläge richtig stark nur an der Oberfläche sind. Aber als das Schwanken gar nicht mehr aufhören wollte, war klar: Das Starkbeben vom Dienstag war nur ein Vorspiel gewesen. Dies war der Ernstfall. Dieses Mal wird es Tote geben.

Doch erst als ich eine Minute später aus dem Kaufhaus auf die Straße trat, wurde mir die Gewalt völlig bewusst. Selbst Minuten nach der Welle ging es sich auf dem Gehsteig wie auf einem Schiff bei schwachem Seegang. Und wir konnten mit bloßem Auge die Hochhäuser schwanken sehen.

Auch in den Hochhäusern gab es Schäden, wie ich bei meinem Weg in den Foreign Correspondents' Club feststellen konnte. Die Fahrstühle hatten gestoppt. Und das Treppenhaus war von abgeplatzter Farbe und Mörtel übersät. Im Club, der die obersten Etagen des 20-geschoßigen Hochhauses belegt, hatte das Beben fest verschraubte Regale aus der Wand gerissen. Und die Kollegen berichteten erschrocken, dass ihre Stühle hin- und hergerutscht seien.

Himmelhohe Brände

Aus dem Fenster konnten wir die gestoppten Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszüge und S-Bahnen sehen. Sollten sie nicht wieder anfahren, könnten Millionen von Pendlern in Tokio stranden. Handynetze begannen erst am Abend im Zentrum wieder zu funktionieren. Und die am Horizont himmelhoch brennende Raffinerie der Ölgesellschaft Cosmo in der Nachbarpräfektur Chiba erinnert die Tokioter daran, wie knapp sie diesmal davongekommen sind. "Das war das stärkste Beben, das ich je erlebt habe", sagte mir der Geschäftsführer des Clubs, Akira Nakamura.

Die Szenen aus Tokio können aber nur eines verdeutlichen: Es ist unvorstellbar, wie sich das Beben im Epizentrum angefühlt haben mag. Wir hatten Angst, obwohl das Beben auf der siebenstufigen japanischen Skala nur eine Stärke von 5+ hatte. Im Zentrum des Bebens war es eine glatte 7. Diese Stufe bedeutet großräumige Verwüstung: kollabierte Gebäude, Erdrutsche, Brände in einem Atomkraftwerk in der Präfektur Fukushima.

Doch die größten Schäden hat bisher vermutlich nicht das Beben, sondern ein massiver Tsunami angerichtet. Bis zu zehn Meter hoch war die Wasserwand. Die Wasserwand drückte Boote, Container, Autos kilometerweit ins Land und riss auf ihrem Weg ganze Dörfer weg und auf dem Weg zurück mit ins Meer. Autofahrer wendeten auf den Straßen und versuchten zu entkommen. Ob es ihnen gelang, ist unklar. Stündlich klettert die Zahl der Toten.

Scharfe Vorschriften

Dass es nicht zu zigtausenden Toten kommen dürfte wie in anderen Ländern bei Beben dieser Größenordnung, verdankt das Land nur seiner guten Erdbebenvorsorge. In keinem Land werden Häuser so erdbebensicher gebaut. Und Baurichtlinien und -technik werden immer weiter verbessert.

Die Menschen reagierten daher relativ gelassen und ruhig. Die Regierung richtete binnen Minuten einen Krisenstab ein. Evakuierungsmaßnahmen liefen geordnet ab. Schnell füllten sich die Notfallzentren. Die Menschen sind realistisch: "Gegen Erdbeben kann man nichts machen, sondern nur hoffen, nicht da zu sein, wenn es passiert", sagt eine Frau.

Eines ist den Tokiotern und der Nation am heutigen Tag dennoch bewusst geworden. Das Land hat noch Glück im Unglück gehabt. Nicht auszudenken, wenn das heutige Beben den Großraum Tokio mit seinen 36 Millionen Einwohnern getroffen hätte. 1923 starben beim großen Kanto-Erdbeben mehr als 100.000 Menschen. Ein anderes Beben der Stärke 7,3 auf der Richterskala in der Region um die Stadt Kobe im Jahr 1995 kostete mehr als 6000 Menschen Leben. Ein ähnlich starkes Beben unter Tokio würde nach dem amtlichen Horrorszenario 11.000 Tote fordern und einen Schaden in Höhe von einem Fünftel des Bruttoinlandsprodukts verursachen.

Unbeherrschbares Szenario

Ein Beben der Stärke 8, das auch Tokio treffen könnte, haben die Planer gar nicht erst durchgerechnet. Offiziell lautete die Begründung, dass solche Beben in Tokio nur alle 200 bis 300 Jahre vorkommen würden. Und das letzte ist ja erst 90 Jahre her. Inoffiziell will man die Menschen nicht zu sehr verunsichern, hat mir ein Erdbebenberater einmal verraten. Es würde psychologisch keinen Sinn machen, ein unbeherrschbares Szenario mit hunderttausenden Toten durchzurechnen. Niemand würde mehr jene Vorsorge treffen, die auch im schlimmsten Ernstfall Menschenleben retten kann. (Martin Kölling aus Tokio, DER STANDARD; Printausgabe, 12./13.3.2010)