Jeremy Scott designt auch für Adidas eine Kollektion.

Foto: adidas

DER STANDARD: In Ihrer jüngsten Kollektion gibt es ein "Prosciutto-Kleid". Gibt es da eine direkte Verbindung zum "Fleischkleid" von Lady Gaga?

Jeremy Scott: Nein, ich hatte keine Ahnung, dass sie das Fleischkleid tragen würde. Außerdem war das innerhalb von wenigen Tagen. Sie trug es am Sonntag, und meine Show war am Mittwoch darauf. Ich hatte es schon vor einem Jahr entworfen, aber noch nicht verwirklicht. Dahinter steckte eine relativ lange Entwicklungsphase, bis der Stoff auch wirklich wie Fleisch ausgesehen hat.

DER STANDARD: Sie und Lady Gaga haben also nie darüber geredet?

Scott: Nein, ich war sehr überrascht von ihrem Auftritt. Aber ich glaube, im Endeffekt hat es uns beiden gutgetan und uns beiden mehr Aufmerksamkeit gebracht. Wenn Chanel demnächst in Fleisch macht, ist es ein Trend.

DER STANDARD: Was denken Sie über Gagas Styling?

Scott: Ich liebe Gaga. Sie versucht etwas Neues zu zeigen, in einer progressiven Art und Weise. Ich glaube, in der Beziehung sind wir uns ähnlich.

DER STANDARD: Wie wichtig ist es für Sie, in Ihren Designs Absurdität und Ungewöhnliches zu zeigen?

Scott: Dinge müssen in anderen Blickwinkeln gedacht werden, denn wir haben alle schon alles gesehen. Als ich das erste Mal den "Wing Shoe" (Scott trägt ihn auf dem Bild rechts, Anm.) konzipierte, dachte ich: Wie kann ich das Volumen des Schuhes anders gestalten? Ich meine, ich könnte auch einen Clownschuh machen! Aber den würden die Leute nicht wirklich anziehen. Mit dem "Wing Shoe" kann man sich dagegen normal fortbewegen, und trotzdem ist er völlig neu.

DER STANDARD: Die Flügel an den Schuhen erinnern an Superhelden.

Scott: Ja? Aber das ist doch ein gutes Gefühl, oder? Die Flügel sind sehr optimistisch besetzt, lassen aber gleichzeitig Raum für Interpretationen.

DER STANDARD: Sie verwenden unterschiedlichste Zitate in Ihren Designs. Ist es die Aufgabe von Mode, gesellschaftlich zu kommentieren?

Scott: Ich weiß nicht, ob das für Mode generell gilt, aber für mich auf jeden Fall. Viele andere Designer machen einfach Hosen und Kleider. Ich will tiefer berühren. Und um das tun zu können, muss ich die Dinge extremer zeigen. Manche Botschaften sollten in großen Lettern geschrieben werden, damit sie klarer werden.

DER STANDARD: Tragbarer wird Ihre Mode dadurch nicht, oder?

Scott: Für mich ist es wahnsinnig wichtig, dass die Leute mit Mode Erinnerungen verbinden und sagen: "Das waren die Schuhe, in denen ich tanzte, als ich meinen Freund kennengelernt habe." Ich selbst habe schon mein ganzes Leben lang Erinnerungen, die an meiner Kleidung hängen, und ich will ebenso ein Teil in den Leben anderer Menschen sein.

DER STANDARD: Gibt es einen Ort, dessen Street Style Sie besonders inspiriert?

Scott: Tokio. Ohne Zweifel. Diese Kids haben den besten Style. Wenn ich dort bin, spornt mich das an, besser zu werden. Tokio hat dieses farbenfrohe Plastik-Pop-Element im Street Style. Selbst wenn sie dort einen Dirty Look versuchen, sieht der immer noch sehr clean aus.

DER STANDARD: Und Paris?

Scott: Paris hat nicht wirklich einen Street Style, oder? Hier ändert sich nicht viel. Ich sehe mich um und kann nicht sagen, welches Jahr wir haben. In vierzig Jahren werden alle noch genauso aussehen. Da kann ich mir den Mund noch so fusselig reden.

(N. Obermüller/Der Standard/rondo/12/11/2010)