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Sinnbild für die zunehmend prekäre Lage der internationalen Truppen in Afghanistan: ein schlaffes Sternenbanner über einem US-Stützpunkt im Arghandab-Tal in der Provinz Kandahar.

Foto: AP/Abd

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Ein Soldat der US-Army auf Streife im Arghandab Tal nahe Kandahar. Über 90.000 von Wikileaks veröffentlichte Geheimdokumente zeichnen ein neues, verheerendes Bild vom Krieg in Afghanistan.

Foto: AP/Rodrigo Abd

Washington/Kabul - Nach fast neun Jahren Krieg in Afghanistan verlieren die USA und ihre Verbündeten gegenüber den Taliban dramatisch an Boden. Über 90.000 geheime Militärdokumente, die der Internetplattform Wikileaks zugespielt wurden, legen ein drohendes Debakel des Westens nahe. Sie geben auch Aufschluss über bisher nicht bekannte Fälle versehentlicher Tötung von Zivilisten. Zugleich lassen die Berichte darauf schließen, dass Pakistans Geheimdienst wichtigster Unterstützer der Taliban ist.

Enthüllt wird die zunehmend dramatische Situation der deutschen Truppen im Norden. Der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus (FDP) hatte die Ausstattung der deutschen Einheiten erst jüngst "ein Drama" genannt und sich dafür scharfe Kritik von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zugezogen. Bei einem Raketenangriff im Süden Afghanistans wurden am Montag bis zu 45 Zivilisten getötet.

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Nachzulesen ist die nackte Realität des Kriegs. Der Tod von acht amerikanischen Soldaten in einem abgelegenen Außenposten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet im Oktober 2009 hatte in den USA ein paar Schlagzeilen gemacht - was für das tägliche Sterben am Hindukusch nicht selbstverständlich ist. Doch dank eines von 92.000 durch die Internetplattform Wikileaks veröffentlichten Dokumenten kann nun jeder die Verzweiflung der Soldaten nachlesen (Wikileaks.org/wiki/AfghanWarDiary,2004-2010).

"Feind innerhalb des Zauns in Keating", meldete ein Soldat. Am Ende wurde der Stützpunkt gegen die Übermacht der Taliban nur in allerletzter Minute verteidigt - einen Tag, bevor er wegen eines Wechsels der Strategie sowieso geräumt werden sollte.

Das Dokument dürfte zu denjenigen gehören, die die Amerikaner am meisten aufrütteln. Doch andere Papiere, die Wikileaks schon vor Wochen der New York Times, dem britischen Guardian und dem deutschen Spiegel zugespielt hat, sind politisch noch brisanter. So beweisen die Dokumente aus den Jahren 2004 bis 2009, die auf unredigierte Rapporte von unteren Dienststellen und Soldaten aus Afghanistan zurückgehen, wie eng der pakistanische Geheimdienst mit den Taliban zusammenarbeitet. Das reichte bis zur Planung von Anschlägen.

Die Pakistani spielten ein doppeltes Spiel, schreibt die New York Times: "Sie gingen auf gewisse Forderungen der Amerikaner zur Kooperation ein, während sie durch Aufständischengruppen, welche die USA bekämpfen, ihren Einfluss in Afghanistan ausbauen wollten." Den Verdacht gibt es schon lange - die Geheimdokumente liefern den Beweis.

Die amerikanischen Wähler werden sich fragen, ob ein solcher angeblicher Verbündeter wirklich die Milliardenhilfe verdient, die ihm jedes Jahr überwiesen wird. Die Aussagen der afghanischen Polizei und der Armee sind aber oft so formuliert, dass die pakistanische Einmischung drastisch erscheint. Dies ist auch die Agenda der Regierung in Kabul. Angesichts der Tatsache, dass die Dokumente die Unzuverlässigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte drastisch darstellen, sind diese keine absolut zuverlässige Quelle. Pakistan wies die Vorwürfe zurück.

Auch die Deutschen kommen nicht gut weg. Der umstrittene, von der Bundeswehr beorderte Luftangriff vom September des vergangenen Jahres taucht auf, bei dem zahllose afghanische Zivilisten ums Leben kamen. Neue Details werden nicht enthüllt. Es wird allerdings noch einmal deutlich, wie falsch zunächst die Lage eingeschätzt worden war: Zivilisten, die sich an einem zerstörten Tankzug mit Benzin versorgen wollten, wurden kurzerhand zu Taliban erklärt, auf die ein Angriff gerechtfertigt schien.

Zweite Enthüllung

Für die US-Regierung ist die zweite Veröffentlichung von Geheimdokumenten in diesem Jahr ein Desaster. Schon im April hatte ein Wikileaks zugespieltes Video über die Erschießung eines Journalisten durch eine Hubschrauberbesatzung im Irak weltweit Empörung ausgelöst. Der mutmaßliche Urheber, der Soldat Bradley Manning (22), steht inzwischen vor Gericht.

Bisher ist unklar, wer diesmal die Quelle war. James Jones, Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, reagierte auf die neue Veröffentlichung harsch: "Die Vereinigten Staaten verurteilen auf das Schärfste die Veröffentlichung von geheimen Informationen durch Individuen und Organisationen. Dies könnte das Leben von Amerikanern und Verbündeten sowie die nationale Sicherheit bedrohen." Allerdings betont Wikileaks, dass man Daten, die Soldaten und andere Beteiligte gefährden könnten, nicht publiziert habe.

Insgesamt enthält das veröffentlichte Material keine Erkenntnisse der höchsten Geheimhaltungsstufe. Seine Brisanz erhält es vielmehr durch das detaillierte Mosaik an Fakten. Dazu gehört auch die Tatsache, dass die unbemannten Flugzeuge, die sogenannten Drohnen, nicht immer die Wunderwaffen sind, als die sie präsentiert werden. (Andreas Geldner aus Washington/DER STANDARD, Printausgabe, 27.7.2010)