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Bei den berühmten Stirngüssen fließt das Öl entlang dem Docht in Richtung Stirn.

Foto: APA/Jens Meyer

Kovalam - Der gekachelte Behandlungsraum liegt im Halbdunkel. Ein Holztisch mit Matratzenauflage steht an einer Seite, an der anderen ein kniehohes Tischchen mit einer kleinen Blumenvase, einer Öllampe und Räucherstäbchen. Der Docht der Öllampe wird entzündet, die Räucherstäbchen glosen.

Man möge sich auf den in der Mitte des Raums befindlichen Schemel setzen. Ausziehen? Ja. Ganz? Ja. Die Therapeutin berührt die Füße der Patientin, anschließend die eigene Stirn, legt ihren Daumen auf die Patientenstirn zwischen die Augenbrauen. Der Zeigefinger sucht eine Stelle am Scheitel. Sie beginnt zu singen. Ein kleines, kurzes, leises Lied, in der Stimmung der Fürbitten der Sonntagsmesse.

In der Ouverture zur vierzehntägigen Ayurveda-Kur wird sofort eingelöst, was die Broschüre verspricht: Entspannung, Ruhe, nur das Nötigste reden und denken. Auch außerhalb des Therapieraums heißt es: Keine Ablenkungen, kein Fernsehen, kein Internet, kein Handy, total offline sein. Vor allem von den eigenen Gedanken an das Leben zu Hause. Dieses wird noch im ärztlichen Erstgespräch erörtert.

"Welcome to India!" Dr. Raman, Chefarzt des Somatheeram-Ayurveda-Ressorts im südindischen Kovalam fühlt den Puls, misst den Blutdruck, Zunge raus. "Ts, ts, eine europäische Zunge wie eine Landkarte. Schauen Sie meine an, so muss das aussehen." Wie alt, wie groß, wie schwer, wird gefragt. Zigaretten? Wie viele? Alkohol? Was und wie oft? Krankheiten, Operationen? Aktuelle Beschwerden? Bis dahin kommt die Prozedur dem europäischen Kurgast bekannt vor.

Aber dann. Lieblingsessen? Libido? Und überhaupt: Wie geht es Ihnen denn? Sind Sie glücklich? Schlafen Sie gut? Können Sie sich gut konzentrieren? Wie geht's der Familie? Haben Sie Sorgen? All das will ein Ayurvede wissen. Das ist sein Kerngeschäft. Das Sanskritwort Ayur bedeutet Leben, Veda ist das Wissen. Und noch eine Überraschung: Der Ayurvede schimpft den Europäer nicht, präsentiert ihm nicht die Rechnung für sein westliches Lotterleben, die zu vielen Zigaretten, die zu vielen Arbeitsstunden, das falsche Essen, weshalb man nun die Härten eines wie immer gearteten Entzugs leiden müsse. "Alles hat mit allem zu tun, niemals ist ein Faktor allein die Ursache für einen Zustand", tröstet Dr. Raman und verkündet die wichtigste Botschaft vor Kurbeginn: das Dosha.

Die drei Doshas

Aus den Patientendaten ergibt sich das individuelle Verhältnis der drei Grundkonstitutionen, Vatha, Pitha und Kapha, die dem Menschen angeblich in die Wiege gelegt und hauptverantwortlich für die Gesundheit sein sollen. Mit der Dosha-Diagnose in der Tasche und einer Reihe jenseits des Vorstellbaren übelschmeckender Medikamente, besonders berüchtigt sind die dunkelbraunen Kräuterabkochungen in der Halbliterflasche, und einem Behandlungsplan beginnt die Kur. Diese ist in der Praxis eine Mischform der Reinigungstherapie (Sodhana Chikilsa) und der Linderungstherapie (Shamana Chikilsa) und richtet sich nach der Dosha-Diagnose, den aktuellen Beschwerden und dem individuellen Kurziel.

Kur-Organisation

Wer bis dahin den Alltag noch nicht hinter sich gelassen hat, wird es jetzt tun. Denn die Organisation der Medikamenteneinnahme ist überraschend aufwändig, die Abstimmung der Anwendung mit den komplementären Verhaltens- und Essensempfehlungen ebenfalls. Steht etwa die eineinhalbstündige Fußmassage auf dem Programm, sollte man hinterher körperliche Anstrengung meiden und nichts Warmes, aber dafür Kokoswasser, Roggenwasser und Fruchtsaft trinken. Also Yoga vorher oder gar nicht, hinterher wahrscheinlich auch nicht, weil man zwei, drei Tage Muskelkater hat. Vor der Anwendung ist Essen sowieso tabu.

Auch beim berühmten Ölbad, bei dem man leicht abschüssig auf einem Tisch aus dem Holz des Brechnussbaums zu liegen kommt und man in Rücken- und beiden Seitenlagen synchron von zwei bis vier Therapeuten nach einer bestimmten Choreografie mit warmem Öl übergossen wird, gibt es einiges mitzubedenken. Hinterher keine körperliche Anstrengung, keine Zugluft, keine kalte Dusche, kein Sonnenbad. Und außerdem sollte man der ungeheuren Versuchung widerstehen, gleich danach ein wenig zu schlafen, während draußen ein schwerer Monsunregen niedergeht. Die geregelten Schlafens- und Essenszeiten sind dem Kurdoktor heilig.

Öl von oben

Die letzten Gedanken an zu Hause verabschieden sich bei den Sirodhara-Anwendungen, den berühmten Stirngüssen. Auf dem schon erwähnten Tisch mit leichtem Gefälle auf dem Rücken liegend, gewahrt man eine irdene bauchige Schüssel, die damoklesschwertartig auf Höhe der Stirn an einem hölzernen Galgen befestigt ist.

Die Schüssel hat ein Loch im Bauch, in ihr steckt ein dicker Docht. Sie wird mit Öl oder einer molkeähnlichen Flüssigkeit befüllt, die den Docht entlang in einem stetigen Strahl Richtung Stirn läuft. Vorher noch den Hals überstrecken, damit's nicht in die Augen rinnt und los. Die Therapeutin bewegt die Schüssel in einem langsamen Rhythmus, sodass der Strahl den Haaransatz trifft. Man schläft ein, träumt, tagträumt, überlässt sich dem, was geschieht ...

Stille von innen

So nimmt es nicht wunder, dass das Kurpublikum still ist und auch beim beladensten Hektiker die Entspannung nach wenigen Tagen einsetzt. Man sieht Hamburger Manager und Schweizer Steueranwältinnen im dunkelroten Kur-Kimono gemessenen Schrittes wie der Dalai Lama auf Urlaub durch den tropischen Garten mit den fantastischen Schmetterlingen wandeln, in gedämpftem Gespräch am Restauranttisch ihr doshagerechtes Mahl einnehmen. Die Entspannung ist kein Ergebnis äußerer Verhaltensregeln mehr, sie macht sich still und leise von innen breit. (Bettina Stimeder, DER STANDARD Printausgabe, 26.7.2010)