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Wohl im Jahre 1959 bin ich in meinem Heimatdorf in Kamering bei Paternion, Kärnten, in die erste Klasse der Volksschule gekommen, zu einer Zeit also, als das Wünschen nichts geholfen hat, sich auch die Eltern dem Pfarrer oder dem Lehrer unterworfen haben. Den ersten Lehrer, der später Selbstmord begangen hat – ich war richtig stolz auf ihn -, hatten wir die ersten zwei Jahre in der Volksschule. Er war ein reisefreudiger Mensch, und als er dann schwer krank wurde, sagte er: "Jetzt werde ich meine letzte Reise antreten!" Dann nahm er sich das Leben. Er war streng, autoritär, und dann und wann mussten wir scheitelknien, also auf einem scharfkantigen Holzscheit niederknien, oder wir wurden in die Ecke gestellt.

Danach ist für ein weiteres Jahr, für die dritte Klasse, ein neuer Lehrer gekommen, den ich geliebt habe, der aber nur ein Jahr lang in unserer Schule geblieben und der jeden Tag mit dem Omnibus aus Villach in unser Dorf gekommen ist. Wenn ich ihn vom Fenster meines Elternhauses vom Omnibus kommen sah, lief ich mit meiner Schultasche zur Tür hinaus, um ihn als Erster zu begrüßen. Hand in Hand gingen der Lehrer und ich in die Schule, und ich hatte natürlich alles Einser. Ja, "alles Einser" , das war unser Sprachgebrauch.

Der dritte Lehrer, der dann gekommen ist, hatte in der Volksschule eine Oberstufe gegründet. Während meine drei älteren Geschwister in Feistritz an der Drau in die Hauptschule gegangen sind, blieben wir in der Dorfvolksschule sitzen und wurden nach acht Jahren ausgeschult. Mit einem einzigen Satz wurden alle Eltern überrumpelt: "Besser ein gutes Volksschulzeugnis als ein schlechtes Hauptschulzeugnis!" Gerne also wäre ich in die Hauptschule gegangen – meine beiden besten Freunde, der Lehrer- und der Schneidersohn, sind sogar ins Gymnasium gegangen -, wir Bauern- und Keuschlerkinder sind in der Volksschule sitzengeblieben, wir mussten also sitzenbleiben, wir hatten keine andere Wahl, wir saßen, um es so auszudrücken, auf unserer Schulbank vor einer vollendeten Tatsache, und das Wünschen, das nicht geholfen hat, war kein Thema, es wurde nie mehr darüber geredet, denn selbst wir Kinder sahen ein, dass es besser ist, ein gutes Volksschulzeugnis als ein schlechtes Hauptschulzeugnis in der Hand zu haben, und wir zweifelten nicht daran, dass wir ein schlechtes Hauptschulzeugnis in die Hand bekommen würden. Und wenn mich dann jemand außerhalb des Dorfes gefragt hat, warum ich nicht in die Hauptschule gehe, sagte ich: "Besser ein gutes Volksschulzeugnis als ein schlechtes Hauptschulzeugnis!"

Zwischen Einser und Zweier

Mein vierzehnjähriger Sohn Kasimir, der Legastheniker ist, wechselte im vergangenen Herbst 2009 von einem konventionellen Gymnasium in die Neue Mittelschule. Im konventionellen Gymnasium – der Direktor dieser Schule behauptete, dass mein Sohn unter den 1000 Schülern der einzige Legastheniker ist – hatte er trotz mühsamer und auch finanziell aufwändiger Nachhilfe, in Englisch und Mathematik entweder eine Vier oder eine Fünf. In der Neuen Mittelschule pendelt er, ohne Nachhilfe, zwischen einer Eins und einer Zwei hin und her, er versteht und begreift jetzt das meiste. Wenn er damals, als er noch ins konventionell-konservative Gymnasium ging, am Morgen seine Schulsachen zusammenpackte, warf er die Hefte, die er für diesen Tag nicht benötigte, oft schreiend und weinend durch das Wohnzimmer in sein Kinderzimmer hinein. Jetzt ist es eine Freude, ihm zuzuschauen, wenn er morgens in die Schule geht und am späteren Nachmittag wiederkommt. Das konventionelle Gymnasium war für ihn eine Folterkammer, und aus dieser Folterkammer haben wir ihn, um es so zu sagen, "ausgeschult" und in die Neue Mittelschule gegeben, und ich hoffe, für alle anderen Schüler auch, dass das alte Gymnasium bald nicht mehr "Schule" macht. (Josef Winkler, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 26./27.06.2010)