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"Möglicherweise haben sie sich vorgestellt, Prinzen und Prinzessinnen zu sein": Kinder im Konzentrationslager Bergen-Belsen, Archivfoto von 1945.

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Paulus Hochgatterer, geb. 1961 in Amstetten, Niederösterreich, ist Kinderpsychiater und Schriftsteller. Verfasser zahlreicher Romane; zuletzt erschien von ihm "Das Matratzenhaus" (2010) im Verlag Deuticke, Wien.

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Als ich vor zehn Jahren die Gedenkrede zur Befreiung des KZs Melk (auch ein Nebenlager des Konzentrationslagers Mauthausen) halten durfte, habe ich am Ende gesagt, es stünde uns allen gut an, uns ein wenig dafür zu schämen, wie dieses Land nach wie vor mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit umgeht. Daraufhin haben sich einige der anwesenden Politiker demonstrativ abgewandt und mir nicht mehr die Hand gegeben. Aufgrund dieser Erfahrung will ich jetzt erst über Scham sprechen, lasse es aber bleiben; - nicht weil ich will, dass Sie mir nachher alle die Hand geben, sondern weil es hier um Kinder gehen soll, und Kinder zur Scham sowieso eine eher wenig verkrampfte Beziehung besitzen. Im Gegensatz zu uns pädagogisch und politisch verbogenen und vorwiegend narzisstisch konfigurierten Erwachsenen tun sie, die Kinder, es einfach, wenn es am Platz ist, sie schämen sich. Also: keine Rede über Scham.

Wenn es um Kinder gehen soll, rede ich derzeit am liebsten von Helene. Helene ist eineinhalb. Sie ist im Besitz einer Mutter, die sie tröstet, wenn sie weint, eines Vaters, der sie in die Luft wirft, von Großeltern, die ihr Marienkäfer zeigen und den Mond, und einer Stoffkatze, zu der sie "Mio, Mio" sagt. Helene hat karottenrotes Haar, einen Sportwagen, mit dem man ziemlich schnell fahren kann und im Gesicht jene Mischung aus unbändiger Lust und tiefer Ernsthaftigkeit, wie man sie nur bei eineinhalbjährigen Kindern findet, wenn sie gerade mit dem beschäftigt sind, mit dem eineinhalbjährige Kinder im Allgemeinen beschäftigt sind, mit dem Erkunden der Welt.

Unlängst waren wir mit Helene Ski fahren; das heißt, die Großen sind Ski gefahren, und einer der Großen hat Helene in ihrem wintertauglichen Sportwagen durch die Gegend chauffiert. Beim Frühstück haben wir einander getroffen und Helene hat uns an den Aspekten der Welterkundung einer Eineinhalbjährigen, die nicht nur den Kinderpsychiater begeistern, teilhaben lassen: an Symbolbildung und an Mentalisierung. Die Lösung der Bedeutung von einem konkreten Gegenstand und ihre Übertragung auf einen anderen - das ist Symbolbildung. Zum Beispiel: Helene kommt zum Frühstück, sieht auf dem Fensterbrett einen Schneemann aus Holz stehen, erkennt in ihm ein Abbild all jener Schneemänner, die sie auf ihren Sportwagenfahrten gesehen hat, stürzt begeistert auf ihn zu und ruft "Neema, Neema - Schneemann, Schneemann." Die Vorstellung der abwesenden echten Schneemänner, das Erkennen des Gemeinsamen - runde weiße Bäuche und Köpfe, schwarze Knopfaugen, Karottennasen - und die Bedeutungsübertragung mithilfe eines sprachlichen Symbolons, des Begriffes "Schneemann" , - das ist Symbolbildung. Die Vorstellung psychischer Prozesse in einem anderen Menschen, die Vorstellung davon, was das Gegenüber denkt, fühlt, befürchtet oder sich wünscht, - das ist Mentalisierung. Zum Beispiel: Helene kommt zum Frühstück, sieht auf dem Fensterbrett ihren Holzschneemann stehen, hat bei den drei vorangehenden Frühstücken die Begeisterung von uns Großen (nicht nur vom Kinderpsychiater-Großonkel) wahrgenommen, blickt sich um, identifiziert die Erwartung in unseren Gesichtern und sagt mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Verschmitztheit: "Neema, Neema - Schneemann, Schneemann." Das Erkennen des emotionalen Ausdruckes in den Gesichtern der Umsitzenden, die Verknüpfung mit dem aus dem eigenen Inneren bekannten Gefühl der Freude und die Vorstellung, mittels der sprachlichen Benennung eines Holzschneemannes diese Freude in den anderen hervorzurufen - das ist Mentalisierung. Deshalb lieben wir übrigens kleine Kinder besonders, - auch, aber nicht vor allem, weil sie in uns Freude hervorrufen, sondern weil sie in uns Freude hervorrufen wollen. (Wer der Sache mit der Mentalisierung übrigens genauer auf den Grund gehen möchte, lese vor allem nach bei den englischen Psychoanalytikern Peter Fonagy und Mary Target.)

Bei der Symbolbildung wie auch der Mentalisierung spielen Vorstellungen eine zentrale Rolle, bildhafte, szenische und ausgiebig mit Gefühlen unterfütterte Hervorbringungen unseres seelischen Zentralorgans. Wir alle tun es ständig, wir fantasieren, imaginieren, inszenieren - wir stellen uns eben vor: Erfreuliches und Ängstigendes, Jämmerliches und Großartiges, Platonisches und Bacchantisches, unangreifbar Braves und über die Maßen Unanständiges. Wir stellen uns Schneemänner vor, eine akute, natürlich höchstens mittelschwere Erkrankung des Lehrers, sofern wir Schüler sind und die Abwesenheit des Lehrers nützlich wäre, wir stellen uns trotzdem vor, wie wir ein "Sehr gut" auf die nächste Schularbeit kriegen, wir stellen uns ein Krügel Bier vor, wenn grad keins da ist und die Luft trocken, ein Lob vom Chef, eine Niederlage des Konkurrenten, ein schnelles Auto, den maximalen Lottogewinn, die ewige Seligkeit und die Frau Nachbarin, aber bitte ohne den Herrn Nachbarn. Wir Kinderpsychiater stellen uns in diesen Tagen vielleicht vor, gewissen geistlichen Herren Reißnägel auf den Betschemel zu legen, und nicht nur als Kinderpsychiater stellen wir uns vor, wie es wäre, gewissen Politikerinnen die Bänder ihrer Dirndlschürze durchzuschneiden. Vorstellungen sind frei, unterliegen nicht dem Strafrecht, und auch die katholische Kirche hat heute andere Sorgen als die Frage der Gedankensünde, wage ich zu behaupten. Vorstellungen sind frei, tun in der Regel niemandem weh und haben eine eminente psychohygienische Funktion: Sie macht die Realisierung triebhafter oder affektgeladener Impulse überflüssig. Die gegen das Vordergebiss des ungerechten Vorgesetzten bloß imaginierte Faust erspart einem Kündigung, Strafverfahren und Schadenersatzzahlung und tut doch ihre Wirkung.

Die fesche Frau Nachbarin, für ein Stündchen ins eigene Bettchen nur vorgestellt, erspart einem Alimentationszahlungen, den Scheidungsanwalt und möglicherweise einen Umzug. Vorstellungen sind frei und bewegen sich überallhin, topografisch, emotional und moralisch - am wenigsten gern in Gegenden, in denen der Schrecken zu Hause ist, der wirkliche Schrecken, und der ist heute unser Thema.

Helene ist ein Mädchen, das sich gern Sachen vorstellt - Hunde (Wuwus, wie sie sagt), Schneemänner und die Freude in den Herzen der Menschen, die rings um sie sind. Helene ist ein kluges Mädchen und wird in ein paar Jahren tun, was alle Kinder tun, die klug sind und sich gern Sachen vorstellen, sie wird lesen. Wenn sie zehn oder elf sein wird und wenn sie aus der Sicherheit ihrer Beziehungen heraus dazu bereit sein wird, wird sie vielleicht Mio, mein Mio lesen, jenes großartige Buch von Astrid Lindgren, das nichts mit Plüschkatzen zu tun hat, in dem - ganz im Gegenteil - von den wirklich schrecklichen Dingen die Rede ist, von der Einsamkeit von Kindern, vom Bösen, das durch Erwachsene kommt, von der Mutter, die fehlt, weil sie gestorben ist, und am Ende vom Tod, den man sich selbst gibt. Helene wird traurig sein, wenn sie das Buch gelesen hat, und zugleich die Gewissheit haben, ein Stück vom Leben verstanden zu haben, ein Stück, das wichtig ist, obwohl es sich nur in ihrer Vorstellung befindet.

Sie wird verstanden haben, dass Ungerechtigkeit die Regel und Gerechtigkeit bestenfalls eine hübsche Idee ist, sie wird verstanden haben, dass es Menschen gibt, die ein Herz aus Stein besitzen, und sie wird verstanden haben, dass für manche Kinder die Welt so schlecht ist, dass ihnen wie Mio nur der Aufbruch ins Land der Ferne bleibt.

Mäntel, die unsichtbar machen

Die Kinder, von denen heute die Rede ist, die Kinder in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus, haben Mio, mein Mio mit Sicherheit nicht gelesen, denn das Buch ist erst 1954 erschienen. Sie haben nicht gelesen von diesem Buben, der in Wahrheit Bo Vilhelm Olsson heißt und eines Tages die Gewissheit erlangt, dass er ein Prinz ist. Sie haben nicht gelesen von Mios Freund Jum-Jum, vom Brot, das den Hunger stillt, von der Quelle, die den Durst löscht, und von den Mänteln, unter denen man unsichtbar wird.

Schließlich haben sie nicht gelesen von den Kindern, die in dunkle Vögel verwandelt werden, und vom abscheulichen Ritter Kato, aus dem die Bosheit fließt wie eine kalte Flut. Die Kinder in den KZs haben all das nicht gelesen, aber wenn ich mich dem anzunähern versuche, was ihnen widerfahren ist, tue ich mir am leichtesten, wenn ich mir sage: Möglicherweise haben sie sich das vorgestellt - Prinzen zu sein und Prinzessinnen, Brot zu haben, das den Hunger stillt, und Mäntel, die unsichtbar machen. Sie haben sich vorgestellt, ihre Eltern wieder zu haben, oder, wenn das nicht klappt, in dunkle Vögel verwandelt zu werden und ins Land der Ferne aufzubrechen. Die Vorstellung der Vorstellungen dieser Kinder ist noch am ehesten auszuhalten. Versucht man sich ihrer Realität anzunähern, zum Beispiel entlang von Betroffenenberichten, erreicht man rasch die Zone des wirklichen Schreckens und ist augenblicklich versucht, in den Mechanismus zu verfallen, der den Umgang mit der Menschenvernichtung durch den Nationalsozialismus nach wie vor breit kennzeichnet, in den der Vorstellungsverweigerung.

Die Vorstellung des Schreckens: Ich kann Ihnen den wirklichen Schrecken leider nicht ganz ersparen. Wer stellt sich schon gern vor, wie es für ein Kind ist, wenn neben ihm der Vater erschossen wird, die Großmutter oder ein anderes Kind, ein kleineres? Wer stellt sich schon gern vor, wie es klingt, wenn ein Soldatenstiefel auf den Kopf eines Säuglings trifft? Wer stellt sich schon gern die letzte Scham eines Kindes vor, das nackt an der Hand seiner nackten Mutter ins Gas geht (doch eine Bemerkung über Scham - man sehe sie mir nach)? Ein Kind wird getötet - das ist der wirkliche Schrecken, schon in der Vorstellung.

Ob diejenigen, die es getan haben, einfach Vorstellungsverweigerer waren wie wir in der Konfrontation mit dem Unerträglichen, ob sie ein primäres Mentalisierungsdefizit aufgewiesen haben, soll heißen, aufgrund ihrer eigenen Kindheitsgeschichte nicht in der Lage waren, sich vorzustellen, wie andere Menschen fühlen, oder ob organisationssoziologisch begründbare Mechanismen, deren Ursachen man zwischen dem berühmten Experiment von Stanley Milgram und Hannah Arendts Rede von der Banalität des Bösen finden kann, ihr Handeln erklären können, bleibt eine letztlich unbeantwortbare Frage. Was sie sich vorgestellt haben, kann man sie nicht mehr fragen, ebenso wenig, ob sie in den Gesichtern der Kinder etwas gelesen haben oder ob sie ihre Namen gekannt haben.

Wir kennen jedenfalls manche der Täternamen und die Namen der Orte, an die sie den Tod gebracht haben und die Bosheit, wie eine kalte Flut. Theresienstadt, Dachau, Auschwitz, Mauthausen, Sobibor, Treblinka, Majdanek, Bergen-Belsen, Ebensee, Gusen, Lackenbach, Melk, Herzograd. Oder Moringen, Uckermark, Spiegelgrund, um Plätze zu nennen, an denen speziell über Kinder und Jugendliche der Schrecken gebracht wurde.

Stellen Sie sich einen Arzt vor

Oder Neuengamme. Das Letzte, für mich das Fürchterlichste; weil alles so konkret ist, so gut dokumentiert. Stellen Sie sich einen Arzt vor, keine vierzig, ehrgeizig, der schon Oberarzt ist und mithilfe einer Studie über Infektionskrankheiten Professor werden möchte. Stellen Sie sich vor, sein Name ist Kurt Heißmeyer, er geht von der Hypothese aus, rassisch minderwertige Menschen seien weniger resistent gegen Krankheitserreger als hochwertige.

Also fordert er Ende November 1944 zwanzig jüdische Kinder aus dem KZ Auschwitz an, zehn Mädchen und zehn Buben, steckt jedem von ihnen einen Schlauch in die Luftröhre, ohne Betäubung, versteht sich, und spritzt ihnen Tuberkel-Bazillen in die Lunge. Parallel dazu infiziert er zwanzig Meerschweinchen mit dem Tuberkulose-Erreger, für jedes Kind ein Meerschweinchen, mit jeweils der gleichen Nummer. Als die Kinder knappe fünf Monat später noch leben, alle zwanzig, und das bevorstehende Kriegsende selbst für die borniertesten Nazis sichtbar wird, packt man sie zusammen und bringt sie in eine Außenstelle des KZs Neuengamme, in die aufgelassene Schule am Bullenhuser Damm im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Dort hängt man sie auf, paarweise, an Haken in einem Kellerraum. Weil sich die Schlinge aufgrund der Leichtigkeit der Kinder schlecht zuzieht, hängt ein Mann sich mit seinem Körpergewicht an ihre Beine.

Stellen Sie sich diesen Mann vor, stellen Sie sich vor, dass er Johann Frahm heißt, und stellen Sie sich den SS-Offizier vor, der das Ganze beaufsichtigt; er heißt Arnold Strippel. Stellen Sie sich vor, dass alle Beteiligte eine Extraration Zigaretten und Schnaps kriegen und dass dieser Strippel, nachdem ihm 1970 seine ursprünglich lebenslange Haftstrafe rückwirkend auf sechs Jahre ermäßigt worden ist, von der BRD 120.000 Mark Haftentschädigung zugestanden bekommt. Stellen Sie sich vor, dass er 1994 stirbt, als freier Mann, und dass es keinerlei Berichte davon gibt, welch kalte Flut von Bosheit von dem Mann geflossen ist. Stellen Sie sich vor, nebenbei, dass der Tag, an dem die Kinder sterben, der 20. April ist.

Stellen Sie sich vor, dass das älteste dieser zwanzig Kinder zwölf ist, ein französischer Bub mit Namen Georges André Kohn, und das jüngste ein erst fünfjähriges polnisches Mädchen, das Eleonora Witonski heißt. Es hat einen Bruder, Roman Witonski, der auch an diesem Tag stirbt. Er ist immerhin schon sieben. Die Schule, in der die Kinder starben, heißt heute Janusz-Korczak-Schule und erinnert an den großen polnischen Kinderarzt und Pädagogen. Janusz Korczak erfuhr nichts mehr von den Ereignissen am Bullenhuser Damm. Er war schon zweieinhalb Jahre früher, im August 1942, gemeinsam mit den Waisenkindern aus dem Warschauer Ghetto, die er betreut hatte, ins Gas geschickt worden, in Treblinka.

Korczak hat in seiner Pädagogik der Achtung neben dem "Recht des Kindes auf den heutigen Tag" , neben dem "Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist" das "Recht des Kindes auf den eigenen Tod" gefordert. Er meint damit das Recht der Kinder auf Freiheit und Selbstbestimmung, das Recht, das Leben freudig als etwas entgegenzunehmen, das auch ein gewisses Risiko in sich birgt. Den Kindern vom Bullenhuser Damm und allen anderen Kindern in den KZs wurde das Recht auf den eigenen Tod systematisch und in einer maximal zynischen Weise genommen, ein Recht, das Mio, der verlassene Bub, der eigentlich Bo Vilhelm Olsson heißt und ins Land der Ferne aufbricht, für sich in Anspruch nehmen kann. Von nichts anderem handelt nämlich Astrid Lindgrens Buch, vom Recht auf den eigenen Tod.

Ich stelle mir vor, dass Helene Mios Geschichte einmal verstehen wird, in zehn, zwölf Jahren. Wenn ihr zufällig, ein paar weitere Jahre später, die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm zu Ohren kommt, wird sie sich die Sache im ersten Moment gar nicht vorstellen wollen. Nach einer Weile wird sie, weil sie ja mentalisierungsfreudig ist, also nicht anders kann, als sich dafür zu interessieren, wie andere Menschen sich fühlen, vorsichtig zu fragen beginnen. Am Anfang, stelle ich mir vor, wird sie die für ihre Vorstellung einzig erträgliche Frage stellen: Weißt du eigentlich, was aus diesen Meerschweinchen geworden ist? Sie wird sich schlecht fühlen für diese Frage, und ich werde ihr sagen, dass sie das nicht muss. Dann werde ich ihr antworten: Die Meerschweinchen sind leider sehr bald gestorben - an Tuberkulose, stelle ich mir vor. (Paulus Hochgatterer/DER STANDARD, Printausgabe, 15./16. 5. 2010)