Heute sind "die Ausländer" das Thema: Philosophieren im zweiten Bildungsweg

"Glaubt ihr, die Ausländer sind selbst schuld am Rassismus?" Ein betretenes Nicken geht durch den Sesselkreis. Die SchülerInnen haben ihre Lektion gelernt: "Die Ausländer" sind schuld an allem, auch an der eigenen Diskriminierung. Es sind nicht engagierte WahlhelferInnen der FPÖ, die heute im Klassenzimmer sitzen - sondern MigrantInnen. Bis auf eine Ausnahme allesamt im Ausland geboren, sind die meisten um die 18 Jahre alt. In der Volkshochschule Ottakring machen sie ihren Hauptschulabschluss. "Zweiter Bildungsweg" heißt das im Amtsjargon. Die meisten von ihnen hätten zwar schon einen Pflichtschulabschluss, die Behörden hätten diesen aber nicht anerkannt.

"Alte sind besonders rassistisch"

Nicht so bei der 24-jährigen Tracy. Sie hat in Nigeria nur für wenige Monate eine Schule besucht. Nach dem Alphabetisierungskurs sitzt sie im Hauptschulprogramm, nebenbei nimmt sie Förderunterricht in Deutsch. Es fällt ihr sichtlich schwer, mit den wenigen Wörtern, die ihr in der neuen Sprache zur Verfügung stehen, ihre Meinung zu erklären. Doch das Thema ist zu brisant, um still zu sitzen: "Alte Menschen sind besonders rassistisch", sagt Tracy. Auch aus eigener Erfahrung.

Jeden Mittwoch vormittag wird im Hauptschul-Lehrgang philosophiert. Während an anderen Hauptschulen Reckstangen umschwungen oder Winkel ausgerechnet werden, werfen die SchülerInnen der Philo-Klasse einen Gummiball durch den Raum. Nur wer den Ball in Händen hält, darf reden.

SchülerInnen wählen das Thema

Heute steht "Rassismus" am Philosophier-Plan. "Auf euren Wunsch", erinnert einer der beiden Betreuer, Senad Lacevic, die Klasse. Beim vorletzten Mal sei das Thema aufgekommen, als eine Schülerin von der Gewalterfahrung einer Cousine erzählte. Der Täter war Türke - jede Menge Stoff für hitzige Polemik.

Nun soll das Thema versachlicht werden, die Lehrer stellen kritische Fragen: "Glaubt ihr, dass ihr Vorurteile habt?" Nein. "Sind Türken gewalttätiger?" - "Die älteren schon", glaubt Lara, selbst türkischstämmig. Was die Jungen betreffe, "sind Österreicher und Türken genau gleich aggressiv", meint Lara. Ob Rassismus ein Problem sei? Ja, sagt Lara, glaubt aber nicht, dass man dagegen ankämpfen kannt: "Ein Mensch, der 60 Jahre lang mit demselben Kopf herumgeht, wird die restlichen 20 Jahre auch nicht mehr anders denken." Und die Kinder dieser älteren Menschen seien schließlich mit Rassismus aufgewachsen, "also denken sie auch so."

"Können eh nichts ändern"

Diese Einstellung sei symptomatisch, sagt Lacevics Co-Betreuer Thomas Stölner. "Die Schüler sind sehr davon überzeugt, dass sie eh nichts ändern können. Sie davon abzubringen, ist Bohren in harten Brettern."

Dass Stölner und Lacevic mit den SchülerInnen wöchentlich Themen wie "Meine Identität" oder "Glück im Leben" beackern und sich dafür eigens weiterbilden ließen, hat ganz pragmatische Gründe: Diese Themen hätten nämlich vorher den Regelunterricht blockiert, erklärt Lacevic. "Was soll das? Wir sind Ausländer, also kriegen wir eh keinen Job", hätte es etwa im Schulfach Berufsorientierung regelmäßig geheißen. "Dort war aber nie genug Zeit, um solche Fragen ausführlich zu diskutieren", erklärt Lacevic. Dafür ist jetzt das wöchentliche Philosophieren da. "Denkforum" heißt die Stunde, "um Berührungsängsten vorzubeugen", wie Stölner erklärt. Statt Platon-Texten gibt es Kurzfilme zum Einstieg, danach wird in Kleingruppen diskutiert, damit auch die Stilleren zu Wort kommen.

Buckel-blind

Warum manche Menschen auf Ausländer schimpfen, fragt Lacevic in die Runde. Die 18-jährige Roula überlegt kurz. "Bei uns im Libanon heißt es: 'Ein Kamel sieht nicht den eigenen Buckel'. Man will eben, dass nur die anderen Probleme machen. Für die Österreicher sind wir die anderen." (mas, derStandard.at, 16.12.2009)