Nach dem EU-Gipfel ist vor dem EU-Gipfel: Europa wartet auf Tschechien. Alle schauen gebannt darauf, dass Präsident Václav Klaus mit seiner Unterschrift beglaubigt, was auf demokratischem Wege von Parlament und Senat längst bestätigt wurde: Die Zustimmung dieses jungen EU-Mitgliedslandes zum neuen Vertrag von Lissabon.

Das könnte man nach dem jüngsten Treffen der Staats- und Regierungschefs bereits mit einem Schuss Resignation wiederholen. Seit Wochen müssen 490 Millionen EU-Bürger zuschauen, wie ein Präsident seine notorische Europa-Skepsis auf die Spitze treibt und die Partner in der Union brüskiert. Es ist nämlich keineswegs so wie Klaus behauptet, dass er nicht unterzeichnen könne, solange Klagen vor dem tschechischen Höchstgericht laufen. Das ist eine innertschechische Angelegenheit, Klaus Weigerung vor allem eine politische Entscheidung. Aber er hat noch immer nicht unterschrieben.

Dennoch ist die Lage nach diesem EU-Gipfel deutlich anders: In Bezug auf Klaus; aber vor allem was nun die unmittelbaren Entwicklungsperspektiven der Gemeinschaft betrifft.

In dem ganzen jahrelangen Gezerre um Vertragsdetails - ob Abtreibungsverbot, Streikrecht, Beneš-Dekrete oder Neutralitätsgarantien - ist vielen ja der Blick verloren gegangen auf das Wesentliche, auf die Neuerungen und Notwendigkeiten, die sich mit dem Lissabon-Vertrag ergeben. Seit zehn Jahren sind die fällig. Damals hatte die Union fünfzehn Mitglieder. Heute sind es 27 Staaten. Aber jetzt wird das nächste Kapitel der Union definitiv neu aufgeschlagen.

Das Theater um die tschechische Präsidentenunterschrift wird vermutlich in wenigen Tagen beendet sein. Klaus hat ein Mitglied seines Kabinetts nach Brüssel entsandt, der den EU-Spitzen gemeinsam mit dem tschechischen Premierminister in die Hand versprach, das der gefundene Kompromiss ausreicht. Und er hat es sogar in einem offiziellen Bulletin bekräftigt. Man kann also davon ausgehen, dass er unterschreibt, obwohl man das bei Klaus nie genau weiß.

Die Geschichte wird über diese unrühmliche tschechische Episode genauso hinweggehen wie über manch andere Allüren in der Vergangenheit. Deshalb ist auch die künstliche Aufregung von Politikern in Österreich, die plötzlich die Beneš-Dekrete legitimiert sehen, so überflüssig. Keine Rede davon. Klaus hat eine Option gekriegt, die nicht zieht. Man sollte diese Kapitel schleunigst beenden, den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge richten.

Der Zufall will es, dass in den kommenden Tagen mehrere Gedenkfeiern in Berlin und in Paris uns vor Augen führen werden, warum es diese Europäische Union überhaupt gibt; warum sie wichtiger ist denn je; warum es nicht stimmt, dass der Traum von Aussöhnung, Frieden und Freiheit nicht mehr ausreicht, um die Bürger vom Sinn der Gemeinschaft zu überzeugen.

Das Gegenteil ist wahr, und wir werden uns am 9. und 11. November alle im Fernsehen davon ein Bild machen können. Da treffen sich die Staatsspitzen, um den Fall der Berliner Mauer vor zwanzig Jahren zu feiern. Vor 71 Jahren gab es an diesem Tag das Pogrom an den Juden in Deutschland und Österreich.

Und vor 91 Jahren endete am 11. November der Erste Weltkrieg. Die deutsche Kanzlerin hält eine Rede - mitten in Paris. Václav Klaus, der so gerne und so simpel die Union in Frage stellt, sollte seine Unterschrift vielleicht am 10. November setzen. Das wäre ein guter Termin als Auftakt für den neuen EU-Vertrag von Lissabon. Der wird die Gemeinschaft im Inneren handlungsfähiger machen, und ihr nach außen, in der Welt, ein geschlosseneres Auftreten verleihen. Das ist nicht wenig. Es geht in Europa um einfache Wahrheiten. (Thomas Mayer/DER STANDARD, Printausgabe, 31.10.2009)