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Der Auserwählte, der die Matrix durchschaut?

Montage: Rigardi.org/Georg Pichler (Fotos: APA/Warner)

Ganze zwölf Sekunden ist Lionel Messi bei diesem Wundertor am Ball. Wäre er ein durchschnittlicher Stürmer in der deutschen Bundesliga, würde er bei solchen Antritten nur etwa vier Mal pro Spiel in den Besitz der Kugel kommen. Bei Messi - freilich ist der kleine Argentinier kein klassischer Angreifer - sind es schon mal deutlich über zwei Minuten. Derartige Details erfährt man bei Christoph Biermanns "Die Fußball-Matrix" zwischen den Zeilen.

Im großen Ganzen beschäftigt sich der Deutsche in seinem neuesten Buch mit der Vermessung der Welt rund um das mittlerweile Plastik gewordene Leder. "Auf der Suche nach dem perfekten Spiel" besucht er Spieler, Trainer und Anlagen rund um die Welt. Er spricht mit Messi über Computerspiele, besucht die topmoderne Trainingsstätte vom TSG Hoffenheim, erklärt wie das Spiel in immer kleinere Einzelteile zerlegt wird.

Die Fußballwelt die er dabei zeichnet, lässt wenig Platz für wirre Romantik wie den Traum eines wundersamen Talents das aus dem Nichts kommt, einer zufällig zum Champions League-Sieg stolpernde Supermannschaft oder einem Weltmeisterteam aus Österreich.

Akribisch wird in der Realität an jedem Detail in modern ausgerüsteten Trainingseinrichtungen gearbeitet, jeder Pass und Laufweg per zerstückelten Videos analysiert und jede Aktion in Statistiken umgewandelt. Selbst vor dem Elfmeterschießen holen schlaue Torhüter mittlerweile Video-iPods heraus um den Zufallsfaktor zu minimieren.

Plumpe Videoanalysen sind längst nicht mehr genug, ein Spiel wird in seine Einzelteile zerlegt. Die Zeiten von "Geht's raus und spüt's euer Spü" sind längst vorbei.

Selbstzweifel

Wie viel Kritik von Außenstehenden ohne Zugriff auf dieses immense Datenmaterial kann sinnvoll sein? Journalisten wie Fans sind nur mit dem freien Auge und im besten Fall einem hervorragenden Verständnis für das Geschehen bewaffnet. Ein paar Basiswerte erfahren wir, wenn wir dem über noch weniger aussagekräftige Fernsehbilder folgen: Ballbesitz, Torschüsse, Fouls. Und vereinzelt legen uns besonders gute Medien Netzwerkanalysen zu Füßen. Von den detaillierten Statistiken, die spezielle Agenturen den Vereinen liefern ist das alles aber so weit entfernt wie der Mond. Die digitale Revolution im Fußball hat stattgefunden.

Bildungsarbeit vom Fußballverband und den Vereinen wäre gefragt. Um das Spiel wieder besser zu verstehen, bräuchten Fans und Journalisten auch mehr Möglichkeiten. Wie wäre es mit Mitschnitten aus einer totalen Perspektive, die man sich (aus Rücksicht auf die TV-Rechte) ein paar Tage nach dem Spiel von der Liga-/ÖFB-Webseite laden darf? Und ließen sich mehrsagende Statistiken aus der Vorsaison nicht auch zur Verfügung stellen?

Der vermeintlich beruhigende Ansatz des ÖFB funktioniert auch. Gerade als du beim Biermann-Buch schon kleinlaut wirst, zieht dich Motivator Didi Constantini aus dem Selbstmitleid. "Videoanalyse vom Gegner? Bringt nichts!", verkündete er sinngemäß vor dem Spiel gegen Litauen (und sprach freilich nur von diesem). Kam der schwache Sieg gegen einen schlechten Gegner wegen oder trotz der Weigerung die Mannschaft mit Videos vorzubereiten? Die Antwort steht irgendwo im Kaffeesud.

Old School

Wie gut die Vorbereitung unter Constantini tatsächlich ist, lässt sich von außen schwer sagen. Und die Stimmung unter den Einberufenen scheint immerhin wirklich gut zu sein. Doch das was da immer wieder nach außen dringt, bereitet Sorgen um die Nachhaltigkeit und Professionalität.

"Der Teamchef hat vor dem Match zu mir gesagt, ich soll mich reinhauen, weil ich körperlich gut drauf sei. Das sollte ich allen zeigen. Das Spielerische käme dann von selbst.", erklärte etwa Roman Wallner nach der Samstags-Tortur. Und das "Geht's raus und spüt's euer Spü"-Konzept findet anscheinend plötzlich doch wieder Platz.

Haben diese Methoden im Fußball wirklich noch nicht ausgedient? Oder nur im Erfolgreichen? Oder stoßen da lediglich zwei unterschiedliche Philosophien aufeinander? Die von im besten Sinne fanatischen Wissenschaftern wie Arséne Wenger und jene von klassischen Motivatoren wie Didi Constantini? Würde man solche Anweisungen zum Beispiel in Deutschland hören? Vielleicht ist es ja nur ein verklärter Blick auf eine größere Fußballnation, der nicht zulässt das zu glauben.

Doch das Spiel der Deutschen am Samstag in Russland legt auch nahe, dass die Matrix dort viel stärker durchleuchtet ist. Vor Einwechslungen wird unter Jogi Löw das dicke Taktik-Buch ausgepackt, das mit einer einst von Jürgen Klinsmann entwickelten genauen Philosophie zusammenhängt.

Nach diesem geheimen Rezept spielen beim DFB auch die Nachwuchsnationalteams, verrät Biermann irgendwo auf seinen 233 Seiten an lesenswertem Text. Deutschlands Mannschaft hat zwar am Samstag das vielbeschworene Masel überstrapaziert, aber der permanente Erfolg der letzten Jahre ist kein Glück sondern schlichtweg Ergebnis eines großen und guten Plans.

Die Sache mit den Jungen

Ein solches, alles durchdringendes Konzept erleichtert natürlich auch die Integration von Jungen in die erste Mannschaft (im großen Entscheidungsspiel gegen Russland ließ Jogi Löw nach dessen starken, titelgekrönten U21-WM-Leistungen erstmals Jerome Boateng auflaufen). Zweifel sind berechtigt, dass es unter Constantini schon ähnliches gibt.

Nicht nur, weil er es nicht für machbar hält, das derzeitige Spielerpotential bis 2011 so zu formen, dass man gegen Mannschaften wie Litauen jedenfalls klar Favorit ist. Jetzt wo er für weitere zwei Jahre im Amt ist, sollte dieser philosophielose Zustand enden. Constantini sagte jüngst auf die Frage nach seinen Vorstellungen für das Team der Zukunft nur: "Visionen sind immer schwierig". ÖFB-Präsident Leo Windtner wäre gefragt diese Vision einzufordern.

Denn vor allem der Umgang mit den Jugendmannschaften in den vergangenen Monaten ist einige Fragen wert. Andreas Herzogs U21, auf dem Weg zur Europameisterschaft (und in der Folge den Olympischen Spielen), wurden zuletzt permanent vor kritischen Spielen Leistungsträger entnommen. Es ging natürlich auch bei der A-Nationalmannschaft noch um recht wichtige Punkte für künftige Auslosungen. Und junge Spieler einzusetzen ist ganz prinzipiell nicht schlecht, vor allem nach all den Jahren, wo solche zu lange hingehalten wurden.

Balance und Weitsicht

Aber Balance und Weitsicht müssen gegeben sein. Daniel Beichler und Yasin Pehlivan sind Leistungsträger auf die Constantini verständlicherweise nicht verzichten will. Auch gegen Veli Kavlaks Einsatz ist nichts einzuwenden und um David Alaba schnuppern zu lassen ist jetzt sogar der perfekte Zeitpunkt.

Aber müssen etwa Christopher Drazan und Julian Baumgartlinger wirklich für die Bank geholt werden, sodass Herzogs U21 in Aserbaidschan schwer in Bedrängnis gerät? Wie bedeutend ein Nachwuchs-Erfolg in jeder Hinsicht ist, das hat 2007 die Weltmeisterschaft der Gludovatz-U20 ein für allemal bestätigt.

Die finanzielle Konsolidierung der heimischen Vereine über Transfers, der aktuelle sportliche Steigflug unseres Fußballs und auch das Selbstvertrauen der neuen Generation – das begann mit diesem Erfolg. Zumindest im (ausgezeichneten) österreichischen Nachwuchs kann man mit einem entsprechendem Konzept solche Erfolge auch zur Regel machen.

Dazu braucht es aber einen Verband und Teamchef, der etwas von der Matrix hält und versteht. Diese Verwissenschaftlichung, lässt Biermanns Buch folgern, nimmt dem Fußball zwar auch nicht diesen herrlichen chaotischen Aspekt, der alles möglich macht. Aber Österreichs Fußballfans sollen sich ja nicht ewig mit Eintagsfliegen und Zittersiegen gegen Litauen zufrieden geben müsen.  (tsc, derStandard.at, 12.10.2009)