Todbringende Nager als moderne Lagerfeuergeschichte

Collage: derStandard.at/Türk

"Eine Frau trinkt am Genfer See in der Schweiz aus einer Getränkedose und stirbt wenig später. Giftiger getrockneter Rattenurin auf der Dose ist die Todesursache. Auf gar keinen Fall soll man daher aus Dosen trinken." Kurz zusammengefasst liest sich so eine E-Mail, die seit rund zehn Jahren immer wieder in verschiedenen Versionen auftaucht und ihre Empfänger zumindest in Unruhe versetzt, ist als Aussender doch eine medizinisch seriös klingende Institution genannt. Auch die Redaktion hat wieder eine solche Nachricht erreicht, mit dem angeblichen Aussender Kantonspital Genf in der Schweiz - ein Anlass zur Wahrheitssuche auf Spuren einer urban legend.

"Äußerst ungewöhnlicher Weg"

An Leptospirose fulgurante soll die Frau gestorben sein, einer Krankheit, die angeblich durch giftige tödliche Substanzen - den Leptospiras - im Rattenurin verursacht werden soll. So stimmt die Geschichte allerdings nicht, sie ist frei erfunden. "Wahr ist, dass Ratten und Mäuse die Leptospirose, eine Infektionskrankheit, tatsächlich auf den Menschen übertragen können", weiß Anja Joachim, Leiterin der Abteilung für Parasitologie an der VetMed in Wien. Auch sie kennt diese Mail und hat sie vor ein paar Tagen selbst erhalten. "Dass infizierter Rattenurin auf Getränkedosen gelangt, ist zwar denkbar, aber ein äußerst ungewöhnlicher Weg für die Übertragung der Infektion auf den Menschen", meint sie. Außerdem laufe nicht jede Ratte mit den Erregern herum. Die Leptospirose mit dem Zusatz fulgurante gibt es im Übrigen gar nicht.

Die Infektion mit Leptospirosen sei an sich sehr selten und tritt vor allem in südlichen Ländern auf. In Überschwemmungsgebieten und subtropischen Gegenden, wo Reis oder Zuckerrohr angebaut werden, kommt es häufiger vor, dass die Bakterien mit dem Rattenurin ins Wasser gelangen und die Zoonose (von Tier auf Mensch übertragbare Krankheit, Anm.) durch Risse in der Haut oder die Schleimhaut übertragen wird. Tödlich endet die Infektion aber nicht gleich: sie ist relativ gut behandelbar mit Antibiotika. Die Symptome sind grippeähnlich: Fieber, Schüttelfrost, Muskelschmerzen.

Schaden für Getränkekonzern

Wolfgang Graninger von der Klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin am AKH Wien kennt die Geschichte ebenfalls. Er zieht in Erwägung, dass das Gerücht ursprünglich in die Welt gesetzt wurde um Coca Cola zu schaden. "Es gibt zwei Krankheiten, die von Ratten übertragen werden. Das eine ist das Hanta-Virus und das andere eben die Leptospirose, die auch gefährlich sein kann, wenn sie unerkannt bleibt." Dass die Krankheit aber durch Kontakt mit Dosen übertragen wird, hält der Mediziner für unwahrscheinlich.

Er rät aber dennoch Dosen auf jeden Fall gut abzuwischen, auch wenn die Gefahr dadurch an Leptospirose zu erkranken sehr gering sei. Die Dosen werden meist in Plastikgebinden transportiert und gelagert. "Man kann sich in südlichen Ländern aber schon einmal eine Diarrhoe holen und theoretisch auch Hepatitis A, wenn sie mit Fäkalkeimen verschmutzt sind." Er selbst "würde nie aus einer Dose trinken", auch wenn die Geschichte eine urban legend ist und eine Infektion im Normalfall nicht tödlich verläuft.

Moderne Lagerfeuergeschichten

Warum verbreiten sich solche urban legends nun aber so gut und halten sich so hartnäckig? Bekannt ist in Österreich auch die E-Mail, die vor Jahren kursierte und davor warnte, dass HIV-infizierte Injektionsnadeln in Kinositzen versteckt seien. Auch das ein Hoax, wie von Frank Ziemann zu erfahren ist, der auf der Website der TU Berlin eine eigene Hoax-Seite betreibt. "Kettenbriefe, die Ratschläge zur Gesundheit enthalten - mögen sie noch so falsch sein - oder vermeintlich jemandem in Not helfen sollen, sind besonders langlebig und werden von vielen - in bester Absicht - weiter geleitet", erklärt Ziemann. Hinzu komme, dass kaum jemand - oder jedenfalls nicht diejenigen, die solche Mails weiter leiten - den Wahrheitsgehalt oder auch nur die Plausibilität der Geschichten hinterfrage oder überprüfe. Auf "weiterleiten" zu klicken ist so viel einfacher als erst noch Nachforschungen anzustellen. "Und so halten sich die Großstadtmythen hartnäckig...".

Anders betrachtet, meint Ziemann: "Früher wurden sie mündlich überliefert, etwa am Lagerfeuer, heute eben mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts. Früher haben sich solche Geschichten über Generationen erhalten - heute sind sie im Vergleich dazu geradezu kurzlebig."

Und das Kantonspital Genf? "Die Rattenuringeschichte ist ein Witz", heißt es auf Anfrage von derStandard.at dort einstimmig aus der Kommunikationsabteilung. Viel mehr hat man dazu dort nicht zu sagen, ist man diverse Journalistenanfragen zum Thema schon gewohnt. Eine Aussendung über die Tote vom Genfer See hat es dort nie gegeben. (Marietta Türk, derStandard.at, 3.9.2009)

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