Schule fürs Leben: Stella (Léora Barbara) und ihr brüderlicher Freund (Guillaume Depardieu) im Vorstadtlokal der Eltern.

 


Foto: Stadtkino

Wien - Es ist Stellas erster Schultag im Gymnasium. Sie setzt sich neben ein ätherisches Wesen mit hellblonden Haaren. Denn vielleicht, meint Stella, wird ja etwas von diesem "Mädchen aus Unsere kleine Farm" auf sie abfärben, sie ebenso klug und proper machen.

Wo Stella (Léora Barbara) herkommt, da geht es nicht so aufgeräumt zu. Ihre Eltern - verkörpert von Karole Rocher und dem Chansonnier Benjamin Biolay - betreiben Mitte der 1970er-Jahre eine Gastwirtschaft in der Pariser Vorstadt. Dort ist es laut und verraucht. Es wird bis spät in die Nacht getrunken und gespielt, gesungen und herumgeschmust. Die Gäste, unter ihnen Guillaume Depardieu als brüderlicher Freund Stellas, haben zwar vielleicht nicht alle einen Schulabschluss, aber auch so viel gelernt fürs Leben.

Zwischen diesen beiden Welten wird sich die elfjährige Stella nun bewegen. Und zwischen diesen beiden Welten wird sich ihr allmählich ein Drittes eröffnen: unbekannte Stimmen, die ihr aus der Seele singen wie Bernard Lavilliers mit 15e round, seinem Durchhalte-Chanson aus dem Boxring. Oder schreiben: "Sie spricht an meiner Stelle", erkennt sie unter Tränen bei der Lektüre von Marguerite Duras' Un barrage contre le pacifique.

Balzac und Reverenzen

Stella, sozialisiert in Popkultur, lernt ihr bislang Fremdes kennen, in dem sie sich jedoch ganz aufgehoben fühlt. Und sie schließt Freundschaft mit einer Klassenkameradin (Mélissa Rodriguez), die sie für diese Dinge entzündet. Stella entdeckt Cocteau und Balzac. Darin kann man nebenbei auch schöne Reverenzen ans französische Kino sehen - nicht zuletzt an einen anderen unverstandenen, bildungshungrigen Teenager namens Antoine Doinel, der in Truffauts Les 400 coups mit seinem heimlichen Balzac-Altar beinah die Wohnung abfackelte.

Sylvie Verheyde, die 42-jährige französische Regisseurin und Autorin, die in Stella zum Teil ihre eigene Lebensgeschichte verarbeitet, zeichnet die Milieus und den Prozess, den ihre Protagonistin durchläuft, differenziert. Obwohl die Halbwelt des Cafés als Ort für ein Kind nur bedingt taugt, lernt Stella dort - und mit ihrer Kinderfreundin Geneviève (Laetitia Guerard) im Norden - Unschätzbares.

Trotz institutioneller Gleichförmigkeit, die individuelle Problematiken und Gefühle betriebsblind übergeht, findet Stella in der Schule auch Unterstützung. Das Zeitkolorit spielt mit, man kann Mode und Songs, Stellas coole Boots oder Umberto Tozzis Ti amo, genießen. Bloßer Selbstzweck sind sie nie. Der Film verrät weder die Intelligenz der kindlichen Heldin noch jene seines Publikums.

Eigentlich könnte man Verheydes fünften Spielfilm auch als würdigen Nachtrag zur Reihe Tous les garcons et les filles de mon age sehen, mit der Arte in den 90er-Jahren Filmemacher wie Claire Denis oder André Techiné das Erwachsenwerden reflektieren ließ. Andererseits bleibt Stella auch ein besonderer Film. Nicht, weil er eine völlig ungewöhnliche Geschichte erzählen würde. Aber er beschreibt genau und doch scheinbar selbstverständlich eine elementare Erfahrung. Eine Erfahrung (von Bildung und von Kultur als emanzipatorischem Mittel), deren gesellschaftliche und politische Voraussetzungen gegenwärtig wieder verteidigt werden müssen.

Am Ende des Films setzt aus dem Off ein filigraner Song ein (die Sängerin ist die Regisseurin selbst): "Ich bin elf, ich bin schon groß, ich heiße Stella ... ich hab keine Angst mehr ... und meinen eigenen Kopf." Was für ein schönes Kinderlied. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9.7.2009)