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Fünf unabhängige Wirtschaftswissenschafter prangern die Praxis der Rechnungslegung an, sehen aber auch in der Finanzkrise eine Chance zu einem "Multiparadigmenwechsel". (Foto: Albrecht Dürers "Apokalyptische Reiter")

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Wien - Ursachenforschung in der Finanz- und in weiterer Folge der Wirtschaftskrise hat im Moment Hochkonjunktur. Auch Prognosen, wie es denn weitergeht oder wann die Krise überwunden ist, scheinen zur Lieblingsbeschäftigung von Analysten und Forschern geworden zu sein.

Fünf Wissenschafter, die sich dezidiert als "unabhängig" verstanden wissen wollen, gehen noch einen Schritt weiter und hinterfragen gleich die gesamten Wirtschaftswissenschaften. Worin sich diese Unabhängigkeit begründet, erklärt Franz Hörmann, Professor für Unternehmensrechnung und Revision an der Wirtschaftsuniversität Wien, am Donnerstag vor Journalisten: "Wissenschaftler agieren als Lobbyisten, um ihren finanziellen Lebensstandard aufrecht zu erhalten oder zu verbessern. Die Ökonomie wird zu einer instrumentalisierten Wissenschaft." Aus wissenschaftlicher Sicht seien die theoretischen Grundlagen großteils widerlegt, kritische Literatur werde aber "totgeschwiegen".

Und damit ist gleich die erste Ansage umrissen: Wirtschaftswissenschafter, die sich in der freien Wirtschaft ein Zubrot verdienen oder als Berater arbeiten, hätten laut Hörmann wenig Interesse, am bestehenden System etwas zu ändern.

Fragwürdige Bilanzen

Die Praxis der Geschäfts- und Quartalsberichte sei nach Ansicht der Experten schon prinzipiell fragwürdig. "Relevante Informationen sind darin nicht enthalten, weil auch die Konkurrenz Einblick hat." Letztendlich sei die Finanzkrise auch auf die "falschen" Konzernabschlüsse zurückzuführen. "Das so genannte Fair Value Accounting hat eine arge Verstärkung der Finanzkrise herbeigeführt. In volatilen Zeiten auf der Aktivseite aktuelle Tagespreise ausweisen zu müssen, wenn zugleich strenge Mindestvorschriften für das Eigenkapital gelten, kann für Banken nur in der Katastrophe enden", so Herbert Haeseler, ebenfalls Professor an der WU Wien.

Finanzielle Kennzahlen seien zur Steuerung von Unternehmen aus wissenschaftlich-mathematischer Sicht grundsätzlich ungeeignet, erklärt der EDV- und Prozessmanagement Consulter Christian Fichtenbauer. "Diese Kennzahlen sind eindimensional und unvollständig, uneindeutig und manipulierbar."

Auch Basel II habe laut Haeseler die Kreditvergabe drastisch behindert und die Volkswirtschaften - insbesondere die mittelständische Wirtschaft - negativ beeinflusst. "Die USA wollten Basel II, haben es aber bis heute nicht eingeführt und werden es meiner Meinung nach auch nie. Die Damen und Herren in der EU fühlten sich aber bemüßigt, zu salutieren", führt Haeseler aus.

Multiparadigmenwechsel

Aber nicht nur Schwarzmalen wollen die Wissenschafter, schließlich sehen sie die "Finanzkrise auch als Chance zum Multiparadigmenwechsel". In zehn Jahren würden sowohl das Gesellschafts- als auch das Wirtschaftssystem völlig anders aussehen als heute.

Als Alternative zum derzeitigen Wirtschaftssystem schlagen die Experten "Netzwerke" vor. Offene, elektronisch unterstützte Basen sollen die Grundlage bilden. Wichtig sei vor allem, dass es keine Anonymisierung gebe, um eine Vertrauens-Basis zu schaffen. Als Beispiel aus der Praxis verweist Hörmann auf das so genannte "social lending". Unter diesem Schlagwort versteht man Privatkredite, die (meistens) über Online-Plattformen ohne Banken zustande kommen. Was gerade in Deutschland für private Anleger und private Kreditsuchende immer attraktiver wird, könnte als Blaupause für die Gesamtwirtschaft herhalten.

Erhard Glötzl von der Universität Linz sieht die Hauptursache für die derzeitige Wirtschaftskrise im dramatischen Unterschied zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen. Während beim Kapital ein exponentielles Wachstum zu beobachten wäre, gab es nur ein lineares bei den Arbeitseinkommen. Die Schere sei immer weiter auseinander gegangen. "Was wir jetzt mit der Finanzkrise sehen, ist ein unkontrollierter Ausgleichsvorgang, wie zum Beispiel bei einem Erdbeben."

Kapitalbesteuerung

Gefordert sei jetzt ein gezieltes Eingreifen, meint dazu Rainer Born vom Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Konjunkturpakete oder Bankenhilfspakete würden zwar gebraucht, um nicht das gesamte System wie ein Kartenhaus einstürzen zu lassen, eine höhere Staatsverschuldung löse die Krise aber sicher nicht, sind sich die Wissenschafter einig. Zumindest mittelfristig müsse das Geld mit Kapitalsteuern finanziert werden.

Neben der Kreditklemme sehen die Experten auch die Konsumflaute als potenziellen Verstärker der Wirtschaftskrise. Wenn Unternehmen und Konsumenten beginnen, ihr Geld zu horten, statt es auszugeben, sei das keine Lösung. Hörmann schlägt daher vor, die Politik solle eine Art "Konsumgeld" für Endverbraucher einführen. "Sagen wir, der Staat stellt jedem Konsumenten pro Monat einen bestimmten Betrag zur Verfügung, der zur Ankurbelung des Einzelhandels dienen sollen. Nicht bar auf die Hand, sondern in elektronischer Form - und was nicht innerhalb eines Monats verbraucht wird, geht wieder zurück." Damit würde man nicht nur den Konsum wieder anheizen, sondern könne auch sehr genau sehen, in welche Branchen und Produkte investiert werde, so Hörmann weiter.

Das Geld solle ausgegeben werden, "solange es noch was wert ist", fügt Haeseler hinzu. Seine Prognose für den Geldmarkt ist düster: Große Währungen werden verschwinden, und durch Gutscheine oder Ähnliches ersetzt werden. Der Euro beispielsweise werde die Defizite der Mitgliedsstaaten nicht lange aushalten können. Außerdem sei generell ein Crash "ärger als 2008" für das laufende Jahr zu erwarten. (Daniela Rom, derStandard.at, 29.1.2009)