Wolfgang Maderthaner ist Historiker und Kulturwissenschafter in Wien.

Foto: privat

Bild nicht mehr verfügbar.

Grafik: APA

Eine Streikdrohung der Post ist bis 11. Dezember aufrecht (dazu auch: Interview mit Postgewerkschafter Gerhard Fritz). Auch bei der Telekom Austria wird die kollektive Arbeitsniederlegung als Protestmaßnahme gegen drohenden Personalabbau nicht ausgeschlossen. Tatsächlich gestreikt wurde in der Zweiten Republik in Österreich allerdings verhältnismäßig wenig. Der Wiener Historiker und Geschäftsführer des Vereins für die Geschichte der Arbeiterbewegung, Wolfgang Maderthaner, erklärte im Gespräch mit derStandard.at, was die Sozialpartnerschaft mit der Streikhäufigkeit zu tun hat und warum eine Solidarisierung der Gesamtbevölkerung für den Streikerfolg unerlässlich ist.

***

derStandard.at: Herr Maderthaner, gibt es in Österreich so etwas wie eine Streikkultur?

Wolfgang Maderthaner: Nein. In der Zweiten Republik gibt es eine geradezu unglaubliche Nicht-Streikkultur. Der einzige große, relevante und einigermaßen das gesellschaftliche Gefüge erschütternde Streik war der im Jahr 1950. Im Wesentlichen ging der Streik von den USIA-Betrieben (Anm.: von der Sowjetunion 1946 beschlagnahmte Unternehmen in der sowjetischen Besatzungszone) und der Großindustrie aus. In den Geschichtsbüchern wird er teilweise als "KP-Putsch" oder als spontaner Aufstand gegen Lohnkürzungen im Rahmen der Lohn-Preis-Abkommen geführt. Das ist eigentlich der wesentliche Streik in Österreich in der Nachkriegszeit. Gefolgt vom Streik der Metallarbeiter 1962, der die letzte wirkliche Großaktion gewesen ist. Es gibt in der Folge immer wieder so etwas wie wilde Streiks, die von der Gewerkschaft nicht anerkannt sind. In den 1970er Jahren zum Beispiel in den Böhlerwerken. Aber im Wesentlichen kann man die Streikhäufigkeit in Österreich in Sekunden pro Jahr messen. Das heißt, es gibt eine hohe soziale Stabilität und offensichtlich auch ein hohes Maß an sozialer Zufriedenheit.

derStandard.at: War das vor 1945 anders?

Maderthaner: Vom Ende der Monarchie bis in die Erste Republik könnte man durchaus von dem sprechen, was späterhin als "italienische Verhältnisse" bezeichnet wurde. Es gab zahlreiche Streiks, die dramatische gesellschaftliche und politische Auswirkungen gezeitigt haben. Die Ausrufung des Generalstreiks 1934 führte letztendlich auch zum Bürgerkrieg. Zumindest in dieser Hinsicht kann man sagen, dass die Zweite Republik aus der Geschichte gelernt hat. Man hat versucht, das ganze rational und institutionell zu lösen.

derStandard.at: In der Frage der Streikhäufigkeit wird der Sozialpartnerschaft oft die Rolle des "Streikvermeiders" zugeschrieben. Wie kann man sich das vorstellen?

Maderthaner: Da gibt es einen berühmten Ausspruch von Bruno Kreisky, der die Sozialpartnerschaft als Transformation des "Klassenkampfs an den grünen Tisch" bezeichnete. Es ist so etwas wie eine institutionelle Interessensaushandlung im Konfliktvorfeld. Das nimmt natürlich den industriellen Konflikten und den arbeitsweltlichen Konflikten viel an Brisanz und an Realwerten. Ganz offensichtlich war es so, dass das System, das wir mit der Sozialpartnerschaft verbinden, in Österreich besonders erfolgreich ist. Das heißt, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte einen Weg gefunden haben, ihre Interessensunterschiede in Form von Institutionen der industriellen und der arbeitsweltlichen Beziehungen zu reglementieren und zu verrechtlichen.

Da gibt es natürlich auch bedenkliche Aspekte, insofern, als dieses System außer- und vordemokratische Elemente aufweist. Es hat aber ganz offensichtlich den Nebeneffekt, zu hoher Lohn- und Arbeitsplatzzufriedenheit zu führen. Es schafft nämlich kontinuierliche Erwerbsbiografien, steigende Reallöhne und so etwas wie eine Identifikation mit dem gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System. Genau in diesem Sinn ist die Sozialpartnerschaft, das System des außerparlamentarischen und außerbetrieblichen Interessensausgleichs, ein Erfolg bis in die 1990er Jahre.

derStandard.at: Was passierte danach?

Maderthaner: Danach gibt es eine starke Flexibilisierung und Liberalisierung. Was aber nicht heißt, wie man am Beispiel Österreich sieht, dass dadurch automatisch die Streikhäufigkeit ansteigt. Offensichtlich ist diese Flexibilisierung der Arbeitszeiten und -löhne in Österreich im institutionellen Rahmen nicht so verlaufen, dass sie als Ungerechtigkeit empfunden wurde. Eine Art "moralische Ökonomie" spielt hier eine zentrale Rolle. Wenn Menschen etwas als ungerecht empfinden oder ihre Arbeitsleistung nicht adäquat anerkannt wird, üblicherweise in Form von Löhnen, dann steigt die Streikbereitschaft und die Häufigkeit von Streiks. Das war aber in Österreich in den letzten Jahren nur sehr wenig zu beobachten.

derStandard.at: Das heißt, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen sozialer Unzufriedenheit und der Streikhäufigkeit?

Maderthaner: Selbstverständlich. Wobei man schon auf ein Paradoxon hinweisen muss: Der Streik als organisierte, kollektive Arbeitsverweigerung hat nur in wirtschaftlich guten Zeiten wirklich einen Sinn. Weil dann tut's weh. In wirtschaftlich schlechten Zeiten gefährdet er die Arbeitsplätze. Und es tut auch nicht weh, wenn ohnehin auf Lager produziert wird, oder wenn das Unternehmen nicht weiß, ob es überhaupt sinnvoll ist, zu produzieren. In diesem Zusammenhang können Streiks natürlich auch kontraproduktiv verlaufen. Das ist ein hochkomplexes Gefüge, das stark mit Machtpositionen in der Gesellschaft zusammenhängt. In Zeiten der Rezession, Rückschläge oder Einbrüche werden die Menschen üblicherweise vorsichtiger. In guten Zeiten hingegen sagt man leichter: Dass es dem Unternehmen gut geht, ist im wesentlichen Teil auch auf unsere gute Arbeitsleistung zurückzuführen, da wollen wir auch einen Anteil daran haben.

derStandard.at: Funktioniert die Solidarisierung in Krisenzeiten besser?

Maderthaner: Diese Frage ist so nicht zu beantworten. Gelegentlich sind Streiks auch so etwas wie die äußersten Mittel zur Verteidigung von Schichtprivilegien, die man in guten Zeiten erworben hat und auf die man nicht mehr verzichten will oder kann. Das ist gesamtgesellschaftlich meist sehr schwer zu vermitteln, die Solidarisierungsprozesse sind äußerst karg. Wo hingegen Solidarisierung sehr gut funktioniert hat, war etwa bei der Absiedelung von Nokia in Deutschland in diesem Winter. Hier wurden jahrelang Standortprämien kassiert und bei der erstbesten Möglichkeit wurde die Produktion dann in ein Billiglohnland verlegt. Da ist die Solidaritätsebene sehr breit, das empfindet jeder als ungerecht. Der Erfolg jedes Streiks hängt übrigens in sehr hohem Ausmaß von der gesellschaftlichen Solidarisierung ab.

derStandard.at: Wie sieht es damit bei Post und Telekom aus, wo ja auch Streiks im Raum stehen?

Maderthaner: Ich kann mir vorstellen, dass hier große Chancen auf eine breite Unterstützung auch außerhalb ihrer engeren Bereiche gegeben sind. Man lebt ja nicht in ganz abstrakten Arbeits- oder Sozialbeziehungen. Jeder kennt seinen Briefträger und spricht mit ihm, hat oft einen freundschaftlichen Umgang. Vielleicht gibt man ihm sogar zu Weihnachten oder Neujahr ein Trinkgeld. Da ist die unmittelbare, menschliche Ebene gegeben, nicht nur die abstrakte Virtualisierung, die die Arbeitswelt mittlerweile zu großen Teilen beherrscht.

derStandard.at: Die Unternehmerseite ist von Streiks ja nur mäßig begeistert. Könnten Unternehmen auch rechtlich gegen Streiks vorgehen?

Maderthaner: Im Prinzip ja, es gibt kein formales Streikrecht. Es ist verfassungsmäßig nicht festgeschrieben und auch nicht in rechtliche Konventionen gegossen. Aber es ist davon auszugehen, dass ein Streikrecht in der gesellschaftlichen Praxis akzeptiert wird. Beim Lokführerstreik in Deutschland wurde die Frage, ob sie denn nun streiken dürften oder nicht, tatsächlich auch gerichtlich ausgefochten, und die Lokführer haben dabei teilweise auch spektakulär verloren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Österreich trotz einer grundsätzlichen Entwicklung in Richtung Klassengesellschaft das prinzipielle Recht auf Streik zur Erreichung bestimmter innerbetrieblicher Ziele in Frage gestellt werden könnte. (Daniela Rom, derStandard.at, 3.12.2008)