Eine Nacht in San Siro



Vor 20 Jahren erreichte Austria Salzburg als erste und einzige österreichische Mannschaft das Finale des UEFA-Cups. Am Höhepunkt der violetten Euphorie schien gegen Inter Mailand alles möglich. Eine Aufarbeitung mit Kapitän Heribert Weber.


Text: Philip Bauer
Umsetzung: Florian Gossy | Markus Hametner | Thomas Korn | Stefan Schlögl
Fotos: Horst Plankenauer
Für maximalen Lesegenuss empfehlen wir die offizielle Hymne: "Wir sind die Sieger"

Heribert Weber wollte seinen Mitspieler warnen. So, wie es sich für einen umsichtigen Kapitän gehört. Also nahm er Christian Fürstaller vor dem UEFA-Cup-Finale 1994 zur Seite, um mit ihm über Dennis Bergkamp zu sprechen. Der Niederländer in den Reihen von Inter Mailand galt als einer der weltbesten Stürmer, Fürstaller als vorbildlicher Halbprofi in der Defensive der Salzburger Austria. Nebenbei verdiente der gelernte Schlosser sein Geld in der Spedition von Vereinspräsident Rudi Quehenberger. Also sprach Weber: "Pass auf, der Bergkamp ist ein filigraner Spieler, technisch versiert. Er bewegt sich sehr gut und hat einen unglaublich schnellen Haken." Fürstaller zeigte sich ob der aufklärenden Worte wenig beeindruckt: "Bergkamp? Welche Position spielt der?"

Wir sind gerannt wie die Viecher
— Heribert Weber

Weber muss schmunzeln, wenn er diese Anekdote 20 Jahre später erzählt. Natürlich wusste Fürstaller, heute ein erfolgreicher Unternehmer, um die speziellen Qualitäten seines Gegenspielers. Aber die Salzburger Kicker hatten im Laufe der Europacupsaison den Respekt vor großen Namen abgelegt. In extremis errungene Erfolge gegen Sporting Lissabon, Eintracht Frankfurt und den Karlsruher SC hatten auf dem Weg ins Finale ihre Spuren hinterlassen. Dabei war die Lage vor der ersten Runde gegen den slowakischen Vertreter Dunajská Streda finanziell angespannt. "Heri, wenn wir diese Runde nicht überstehen, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll", sagte der dem Risiko nicht abgeneigte Quehenberger zu Weber im Vertrauen. Salzburg gewann trotz eines nervösen Führungsspielers beide Begegnungen mit 2:0. Der Auftakt zu einer europäischen Erfolgsgeschichte, an deren Ende ein Abend im Giuseppe-Meazza-Stadion stehen sollte.

Am 11. Mai lief Weber mit dem Wimpel in der Hand vor 80.326 Zusehern zu jenem zweiten Finalspiel ein. Vor ihm der schottische Schiedsrichter James McCluskey, neben ihm die italienische Fußballikone Giuseppe Bergomi. Gänsehaut im Mailänder Stadtteil San Siro, der dem Kultstadion seinen ursprünglichen Namen gab. "Es war unglaublich. Für die Spieler von Inter vermutlich nur Alltag, für uns aber ein einmaliges Erlebnis", erinnert sich Weber. Rund 7.000 Fans hatten die Austria in feucht-fröhlicher Atmosphäre in Sonderzügen nach Mailand begleitet. Spricht Weber über deren Unterstützung, gerät er noch heute ins Schwärmen: "So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Über all die Jahre haben sie mitgelitten und mitgefiebert. Bei Siegen wurden wir gefeiert, bei Niederlagen nicht in Frage gestellt, sondern getröstet. Die Anhänger sind mit uns gewachsen."

Der Weg ins Finale

RundeAustria SalzburgGesamtHin / Rück
1. RundeD. Streda 4:02:0 / 2:0
2. RundeR. Antwerpen 2:01:0 / 1:0
AchtelfinaleS. Lissabon 3:20:2 / 3:0 n. V.
ViertelfinaleE. Frankfurt 1:11:0 / 0:1 (5:4 i. E.)
HalbfinaleKarlsruher SC 1:10:0 / 1:1
    
RundeInter MailandGesamtHin / Rück
1. RundeR. Bukarest5:13:1 / 2:0
2. RundeA. Limassol4:31:0 / 3:3
AchtelfinaleNorwich City2:01:0 / 1:0
ViertelfinaleB. Dortmund4:3 *3:1 / 1:2
HalbfinaleCagliari Calcio5:32:3 / 3:0

Als Weber 1989 im Alter von 34 Jahren zu Aufsteiger Salzburg wechselte, war an internationale Höhenflüge nicht zu denken. "Man hat hinter vorgehaltener Hand über uns gescherzt", sagt der Steirer. Damals wurde vereinsintern der Klassenerhalt als Ziel ausgegeben. Eine neue, ungewohnte Situation für Weber, der mit Rapid zuvor viermal österreichischer Meister geworden war: "Die Umstellung war am Anfang nicht einfach." Doch spätestens mit der Verpflichtung von Trainer Otto Baric sollte es mit den Violetten ab 1991 "explosionsartig nach oben gehen". Die Mannschaft war gereift, und Baric gab ihr das taktische Rüstzeug für größere Aufgaben mit. Der Kroate wusste seine Mannen zu dirigieren. Und auch zu motivieren. Weit über die eigenen spielerischen Grenzen hinaus.

7.000 Salzburger Fans eroberten Mailand. Manch einer machte schon vor dem Dom schlapp.

Nein, die Salzburger Finalisten waren keine außergewöhnlichen Feinmotoriker. Vielmehr bestachen sie durch Organisation, Laufbereitschaft und Kampfkraft. "In der Liga wusste jeder: Um uns zu schlagen, muss man mehr rennen als wir." Nachsatz: "Und wir sind gerannt wie die Viecher." Die Qualitäten stachen auch auf europäischer Bühne. Mannschaften wie Sporting Lissabon und Eintracht Frankfurt waren Salzburg spielerisch überlegen - und mussten sich trotzdem geschlagen geben. Endgegner Inter Mailand plagte sich zwar in der Serie A, dennoch traten die Nerazzurri mit einigen Spielern von Weltklasse an: Da waren nicht nur Bergkamp und Bergomi, sondern auch der mehrmalige Welttorhüter Walter Zenga, der uruguayische Stürmerstar Rubén Sosa und der italienische Teamspieler Nicola Berti, der bereits im Hinspiel von Wien zum 1:0-Sieg für Inter getroffen hatte.

Trotz der Hypothek einer Heimniederlage trat Salzburg zum Rückspiel durchaus hoffnungsfroh an: "Wir sind mit dem Glauben nach Mailand gefahren, dieses Match gewinnen zu können. Das erste Spiel hatte unsere Möglichkeiten aufgezeigt." Dass die torgefährlichen Spieler Heimo Pfeifenberger und Hermann Stadler aufgrund ihrer Sperren zusehen mussten, tat dem Optimismus keinen Abbruch: "Es war in dieser Phase völlig egal, wer spielen konnte. Wir waren in Trance, in grenzenloser Euphorie. Jeder ist am Platz über sich hinausgewachsen, jeder hat seinen Teil beigetragen." An gewisse Personalsorgen kann sich Weber gleichwohl erinnern: "Da auch Nikola Jurčević angeschlagen war, haben wir sogar überlegt, ob ich nicht Mittelstürmer spielen soll. Aber nur kurz." Humor à la Weber.

Heribert Weber lässt Dennis Bergkamp keinen Zentimeter Platz. Peter Artner beobachtet die Szene aus sicherer Distanz.

Baric hatte seine Mannschaft in Mailand einmal mehr mit einer leidenschaftlichen Ansprache auf das Match eingeschworen: "Er war nach der Spielerbesprechung schweißgebadet. Das war aber nicht ungewöhnlich. Wir kannten ihn gar nicht anders." Die kontrollierte Defensive war dem Trainer als Rezept für langfristigen Erfolg heilig, die Mann-im-Raum-Deckung galt ihm dabei als Goldstandard. Drang ein Gegenspieler in die Zone vor, wurde er manngedeckt. Pferdelungen wie Wolfgang Feiersinger und Thomas Winklhofer konnten dieses laufintensive System umsetzen: "Die hatten eine Kraft in sich, das war schlicht phänomenal." Im Angriffsdrittel sollte wiederum Jurčević für Pressing sorgen: "Der hat nie eine Ruhe gegeben."

57. Minute: Der legendäre Stangenpendler von Marquinho.
Video in voller Länge

Weber gab zwischen Christian Fürstaller und Leo Lainer den Libero, aber keineswegs einen klassischen: "Ich spielte auf einer Höhe mit den zwei Verteidigern, manchmal sogar davor, fast schon zentraler Mittelfeldspieler. Als gelernter Stürmer hatte ich immer einen Offensivdrang. Gegen eine Topmannschaft beginnt man aber defensiver und rückt nur bei Gelegenheit auf." Bis zur Pause hielt sich Salzburg mit Angriffen tatsächlich zurück, die Partie war von gegenseitigem Respekt geprägt. Der Austria mangelte es an Kreativität, hinten hielt Torhüter Otto Konrad das 0:0 fest und damit das Spiel offen. In der zweiten Halbzeit stockte den Tifosi kollektiv der Atem, die beste Phase der Salzburger kulminierte in einem Weitschuss des Brasilianers Marquinho: Der Ball prallte in der 57. Minute von der linken Innenstange ab, rollte entlang der Linie zur rechten Stange - und von dort zurück ins Feld. Quasi ein Ding der Unmöglichkeit.

62. Minute: Wim Jonk trifft zum 1:0 für Inter Mailand.
Video in voller Länge

Nur wenige Minuten später ließ der Niederländer Wim Jonk Leo Lainer ins Leere grätschen und hob den Ball geschickt über Konrad ins Tor. Die Entscheidung war gefallen, Salzburg kam nicht mehr zurück. "Am Ende fehlte uns die Offensivkraft. Und auch das Quäntchen Glück aus den Runden zuvor." Konrad legte sich gleich nach dem Abpfiff am Mittelkreis nieder, ließ sich von der Stimmung im San Siro berieseln. Weber haderte wiederum mit der unglücklichen Niederlage. Es war sein zweites verlorenes Endspiel, das erste absolvierte er 1985 mit Rapid gegen Everton, und sein letzter von 63 Einsätzen im Europacup: "Aber wir konnten uns wirklich nichts vorwerfen. Ich bin in jedes Kopfballduell gegangen, als wäre es das letzte meines Lebens." Auch die italienischen Fans honorierten die Leistung des Außenseiters: "Wir haben Ehrenrunden gedreht. Die Fans haben uns wie der eigenen Mannschaft applaudiert. Das haben wir genossen", erzählt ein fast schon gerührter Weber. Dann lacht er doch noch: "Wenn man verliert, applaudieren die Italiener eben gerne."

Das Ende einer langen europäischen Reise. Die Salzburger verabschieden sich vom Publikum im Giuseppe-Meazza-Stadion.

Die Finalspiele im Überblick

Wien, 26. April 1994
SalzburgInter
0:1 (0:1)
Spieler

Otto Konrad

Leopold Lainer

Heribert Weber

Thomas Winklhofer
(61. M. Steiner)

Christian Fürstaller

Franz Aigner

Martin Amerhauser
(46. Damir Mužek)

Peter Artner

Marquinho

Heimo Pfeifenberger

Hermann Stadler

Walter Zenga

Antonio Paganin

Angelo Orlando

Wim Jonk

Giuseppe Bergomi

Sergio Battistini

Alessandro Bianchi

Antonio Manicone

Nicola Berti

Dennis Bergkamp
(89. F. Dell'Anno)

Rubén Sosa Ardáiz
(75. Riccardo Ferri)

Tor Nicola Berti (35.)
Rot Bianchi (50., Foul)
Zuschauer 47.500
Schiedsrichter Kim Milton Nielsen (Dänemark)

  • cc-by-nc-sa Werner100359 (FC Salzburg Wiki)

  • Matchticket Mailand von Jürgen Heimhofer
Mailand, 11. Mai 1994
InterSalzburg
1:0 (0:0)
Spieler

Walter Zenga

Antonio Paganin

Davide Fontolan
(67. Riccardo Ferri)

Wim Jonk

Giuseppe Bergomi

Sergio Battistini

Angelo Orlando

Antonio Manicone

Nicola Berti

Dennis Bergkamp
(89. M. Paganin)

Rubén Sosa Ardáiz

Otto Konrad

Leopold Lainer

Heribert Weber

Thomas Winklhofer
(67. M. Amerhauser)

Christian Fürstaller

Franz Aigner

Nikola Jurčević

Peter Artner
(73. M. Steiner)

Marquinho

Wolfgang Feiersinger

Adolf Hütter

Tor Wim Jonk (62.)
Zuschauer 80.326
Schiedsrichter James McCluskey (Schottland)

Im Mai 2014 ist es nicht die fußballerische Leistung, die Weber als einzigartig erachtet, sondern die damals in Österreich ausgelöste Euphorie: "Dass eine Mannschaft aus den Bundesländern das Happel-Stadion problemlos füllen kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Es war eine Kettenreaktion. Mit jedem Sieg wurden es mehr Fans, fast schon eine Hysterie. Man hat uns gefeiert wie eine Popband." Die Erklärung hat Weber an der Hand: "Wir spielten für Österreich. Auch die Wiener Fußballfans gönnten uns die Erfolge. Wir waren sympathische Burschen, die leger aufgetreten sind, das hat den Menschen gut gefallen. Wir haben Fehler gemacht, aber jeder hat gesehen, dass diese Mannschaft am Platz alles gibt. Das wurde über Vereinsgrenzen hinweg anerkannt."

Drei Tage nach dem Endspiel verlor Salzburg gegen den VfB Mödling mit 2:3. Der Boden hatte die Austria kurz wieder, ehe sie im Juni trotzdem den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte fixierte. Heribert Weber beendete mit diesem Erfolg nach 573 Bundesliga-Spielen fast 39-jährig seine aktive Karriere: "Ich habe in meiner letzten Saison gesehen, was Wille und Selbstvertrauen im Fußball bewirken können. Eine unbezahlbare Erfahrung." Drei Jahre später hatten Leistungsträger wie Konrad, Pfeifenberger, Artner, Feiersinger und Jurčević den Verein bereits verlassen. Heribert Weber führte Austria Salzburg als Trainer zur Meisterschaft.

UPDATE: In der Tabelle "Der Weg ins Finale" stand ursprünglich in der Zeile Inter Mailand vs B. Dortmund der Gesamtstand 3:4. Danke an Forum-User Rgnrk fürs Finden des Zahlendrehers. ^

derStandard.at, 9. Mai 2014
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