Wien - Seit Wladimir Putins Amtsantritt als gewählter Präsident vor zwei Jahren hat sich Russland politisch stabilisiert und wirtschaftlich erholt. Ist diese Entwicklung nachhaltig? Das hänge vor allem davon ab, ob Putin zum politischen Selbstmord fähig sei, meint die renommierte Politologin Lilia Shevtsova vom Moskauer Carnegie Centre. In einer vom Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) ausgerichteten Konferenz in der Diplomatischen Akademie (Mitveranstalter der Standard ) nannte Shevtsova am Freitag die Westorientierung "ohne Pferdehandel" als Hauptleistung Putins. Wenn der Kremlchef aber mehr als eine Fußnote der Geschichte werden wolle, müsse er im Land selbst Reformen nach westlichen Standards einleiten. Das bedeute Teilung der Macht mit Parlament und Regierung, Entbürokratisierung, Beseitigung des Filzes zwischen Politik und Wirtschaft - kurz: ein Aufbrechen des gesamten Systems. Eben dies käme einem bewussten politischen Selbstmord gleich. Und den habe bisher noch kein russischer Führer begangen - außer Michail Gorbatschow, der aber unfreiwillig. Eine gewisse Chance sieht Shevtsova in Putins Pragmatismus: "Er riskiert nichts Unvorhersehbares und versteht die Frage nach den Fähigkeiten, seinen eigenen und denen des Landes." Putin könnte zu dem Schluss kommen, dass er am besten überleben kann, wenn er die Macht teilt. Dass der Präsident seine Erziehung und soziale Prägung überwindet und aus Eigenem zum überzeugten Demokraten wird, hält Shevtsova dagegen für ausgeschlossen: "Geheimdienstoffizier ist kein Beruf, das ist eine Lebensauffassung. Da müsste er seine ganze Persönlichkeit ändern." Der Wiener Politologe Gerhard Mangott präsentierte zwei von ihm verfasste bzw. herausgegebene Studien (Zur Demokratisierung Russlands. Band 1: Russland als defekte Demokratie; Band 2: Leadership, Parteien, Regionen und zivile Gesellschaft; Verlag Nomos, Baden-Baden 2002). Einen Hauptdefekt sieht Mangott in der "Unterinstitutionalisierung und Überpersonalisierung" des russischen Systems. Das neue Wahlgesetz könne aber zumindest mittelfristig ein funktionierendes Parteiensystem bewirken. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 29./30.6.2002)