Wien - "Ich heut' zu Brasilia halten!" Als sich der verdutzte Passant auf dem Brunnenmarkt umdrehte, grinste der Standler nur: reingefallen. Die mächtig rote türkische Fahne neben dem Fernseher sagte ohnehin alles. Und: "Türkiye!" Klatsch, klatsch, klatsch, "Türkiye!" Klatsch, klatsch, klatsch, "Türkiye!" Klatsch, klatsch, klatsch - sagte schon vor dem Match den Rest. Hier im 16. Wiener Gemeindebezirk gab es Mittwoch nur eine Hoffnung: Dass - quasi - Ottakring ins WM-Finale einziehen möge.Wenig später im großen Saal im Restaurant Kent, dem kommunikativen Zentrum des Brunnenmarktes. Dort, wo vorne das Atatürk-Bild hängt. Und wo sich der Kellner am Hinterkopf einen Halbmond mit Stern rasiert hat. Dort brodelt es während der ersten Halbzeit. Auch wenn man nicht alle Schlachtgesänge versteht - "En Büyük Türkiye!" - kein Zweifel, worum es hier geht. Die Türken sind die Besten. In den ersten 45 Minuten. Und wenn sie "Hasan! Haaaasaaaan!" schreien, dann ist nun einmal Sas der coolste Kicker von hier bis Izmir. Da fiebert zum Beispiel Fazli mit den "Roten" - seit vier Jahren lebt er in Wien. Davor sieben Jahre in Oberösterreich. Seine Malerarbeit ruht an diesem Nachmittag. Und auch sonst denkt er in diesen Minuten einmal nicht an die österreichische Staatsbürgerschaft, die er kürzlich beantragt hat. "Die Kinder gehen hier zur Schule - warum sollte ich zurück?" Auch das geplante Wahlrecht für Ausländer, die Öffnung der Gemeindebauten - alles kein Thema heute. Integration ist jetzt, wenn die türkischen und die anderen Ottakringer gemeinsam bibbern. Verdächtig oft: "Rüstü!" Dann schreien sie schon verdächtig oft "Rüstü!" - weil der wieder einmal gehalten hat. Und dann die zweite Halbzeit. Das Tor der Brasilianer. Auf einmal ist es still im Kent. Sie sitzen, schauen, glauben es nicht. Dann der Kommentar. Und der ist auf Deutsch: "Scheeeiiise." Die Luft ist draußen. Nur hin und wieder noch ein hoffnungsvolles "Hasan!". Aber das klingt schon heiser, und alle lachen. Sie lachen auch, als ein brasilianischer Torjäger gleich von einer ganzen türkischen Traube verfolgt wird. Und Fazli weiß trotzdem: "Heut' Nacht wird gefeiert. Hier und in der Türkei." Auch nach der Niederlage? "Sicher. Wann sind wir schon so weit gekommen?" Es wird aber wohl deutlich verhaltener sein - nicht mehr so wie am Samstag nach dem Semifinaleinzug der Türken. Als die BMW-Kolonnen durch Ottakring kreuzten und die Kids mit den türkischen Fahnen aus den Autofenstern hingen. Da klatschten ihnen die Passanten Beifall, und sogar die Taxler hupten und vom J-Wagen kam ein "Bim". Am Mittwoch strömte die Menge gleich nach dem Match nach draußen. Als die geknickten Fans im roten Leiberl bei einer Wienerin vorbeizogen, gab die ihnen ein "Beileid" mit auf den Heimweg. (Roman Freihsl/DER STANDARD, Printausgabe 27.06.2002)