Nahost
"Alles Schweigen wäre besser gewesen"
Frankfurt/Zürich- Mit der Nahost-Rede von US-Präsident
George W. Bush und dessen Forderung nach einem radikalen
palästinensischen Führungswechsel befassen sich am Mittwoch
zahlreiche Pressekommentare in Europa. "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ):
"Tatsächlich können nur die Amerikaner beide Seiten durch das
Gewicht, das eine Supermacht nun einmal hat, zu neuerlichem Dialog
veranlassen. Dass Bush das Ende des Terrorismus zur Bedingung gemacht
hat, wird man nachempfinden können. Dahinter steht die Erwägung,
blutige Anschläge gegen Zivilisten, wie sie seit Monaten von
Extremisten aus dem palästinensischen Lager verübt werden, dürften
nicht auch noch politisch 'belohnt' werden. Doch hier beginnen schon
die Schwierigkeiten. Was ist Terrorismus? Gehören dazu nicht auch
viele der unverhältnismäßigen Aktionen der israelischen Armee, die
bisher auf palästinensischer Seite mehr als zweitausend
Menschenleben, darunter auch viele Kinder, gefordert und die (auch
zivile) Struktur der autonomen Gebiete fast ganz zerstört haben? Was
ist mit den 'extralegalen Liquidierungen' von Verdächtigen ohne
Anklage und Prozess? Ist das nicht so etwas wie Staatsterrorismus?
(...) Die zweite Bedingung Bushs, die Palästinenser brauchten eine
neue Führung und demokratische Strukturen, klingt zunächst
vernünftig. Aber ist sie auch realistisch? Dahinter steht vor allem
der Wunsch Sharons, Arafat, der sein Intimfeind geworden ist,
loszuwerden."
"Frankfurter Rundschau":
"Si tacuisses, George W. Bush! Denn alles Schweigen wäre besser
gewesen, als eine solch unausgegorene 'Friedensvision' zum Besten zu
geben, die keine Ansätze zur Lösung, sondern beiden Konfliktparteien
nur Signale für weiteres Fehlverhalten bietet. Wer für seine
Forderungen von den Verwaltern des kriegerischen Status quo, von
Ariel Sharon und Yasser Arafat gleichzeitig Beifall erhält, muss
etwas falsch gemacht haben. (...) Es kommt einem diplomatischen
Kurzschluss gleich, die Zukunft des gesamten Friedensprozesses in
Nahost vom Schicksal des selbst in palästinensischen Augen
umstrittenen Arafat abhängig zu machen. Mit dieser Art der
Intervention wird Bush nichts als die überzeugende Wiederwahl des
Verfemten erreichen."
"Neue Zürcher Zeitung" (NZZ):
"Politischen Beobachtern ist aufgefallen, dass Bush keinen
präzisen Zeitplan für die weitere Entwicklung vorgelegt hat, wie es
vor allem der ägyptische Präsident Mubarak gefordert hatte. (...)
Bush hat praktisch unverblümt die Entmachtung des
Palästinenserführers gefordert, auch wenn dessen Name in der Rede
nicht erwähnt wird. Dass eine derart gezielte personelle Forderung
klug ist, darf man bezweifeln, denn immerhin ist Arafat vor sechs
Jahren mehr oder weniger demokratisch gewählt worden. (...) Kein Volk
aber lässt sich bei der Wahl seiner Führung so leicht durch fremde
Mächte Vorschriften machen."
"Handelsblatt":
"Heute erschallt wieder eine Parole: 'Oslo ist tot.' Sie ist
sowohl richtig als auch aktuell. Denn ein intensivierter Bau
jüdischer Siedlungen im Westjordanland, israelische Militäroffensiven
zur Absicherung einer deutlich erkennbaren Expansionspolitik und
nicht zuletzt anhaltender Terror von Dschihad, Hamas und Al Aksa
haben die Uhr inzwischen wieder weit in die Zeit vor Oslo
zurückgedreht.
(...) Oslo kreierte ein Klima des Vertrauens; heute herrscht Hass,
Krieg. Zudem: Die fast ultimativ und damit nicht gerade diplomatisch
vorgetragene Forderung nach einer neuen palästinensischen Führung
heißt ja nichts anderes als das Ende Arafats. Viele Palästinenser
können dies kaum akzeptieren."
"Arafat hat noch ein Ass im Ärmel"
"Le Monde":
"Bush hat den Palästinensern einen seltsamen Handel
vorgeschlagen: Die USA werden euch helfen, einen Staat zu bekommen,
wenn ihr euren Chef loswerdet. In dem er die Ablösung von Arafat
fordert, folgt Bush einer prinzipiellen Forderung des israelischen
Premiers Sharon. Doch scheint dessen Begeisterung vorschnell. Für
Bush ist der Abgang Arafats Voraussetzung für Verhandlungen, die zum
Ende der israelischen Besetzung und zur Schaffung eines
Palästinenserstaates führen sollen. Bush konzentriert allen Druck auf
die Palästinenser, die Ende des Jahres wählen müssen. Sharon vertraut
darauf, den Status quo zu erhalten und Zeit zu gewinnen. Bush muss
ihm sagen, dass der zweite Teil seiner Rede genauso wichtig ist wie
der erste."
"The Times":
"Es war wichtig, festzustellen, dass ein Palästinenserstaat
niemals durch Terror geschaffen wird - denn viele glauben
mittlerweile das Gegenteil. Und es ist nur realistisch, dass
palästinensische Politiker, die vertrauenswürdiger als der namentlich
nicht genannte Arafat sind, gefunden werden müssen, um aus der
tödlichen Sackgasse mit Israel herauszukommen. (...) Vieles hängt
davon ab, ob Arafat wirklich daran liegt, die Not der normalen
Palästinenser zu lindern. Wenn das der Fall ist, dann wird er an der
Schaffung einer neuen politischen Führung mitwirken. Wenn er aber nur
vom eigenen Machterhalt besessen ist, dann werden ein
palästinensischer Staat und Friede im Nahen Osten niemals
Wirklichkeit."
"The Guardian":
"Was den Palästinensern jetzt angeboten wird, ist weniger als das,
was 2001 in Taba auf dem Tisch lag und was Arafat so törichterweise
ablehnte. Aber selbst unter diesen eingeschränkten Vorzeichen stellt
Bush keine politischen Werkzeuge zur Verfügung. Sein Außenminister
Colin Powell hat Reisepläne in die Region verschoben. Kein
Sonderbeauftragter soll Bushs Gedanken weiter verfolgen. Die von
Powell vorgeschlagenen Friedenskonferenz ist bis auf weiteres auf Eis
gelegt. Es gibt keinen Zeitplan und vor allem keinen überzeugenden
Anreiz für die Extremisten, das tägliche Morden zu beenden. Die
Schlussfolgerung muss sein, dass Bush und seine wichtigsten Berater
mit Ausnahme des unglückseligen Außenministers Powell nicht wirklich
an Fortschritt glauben, sondern hoffen, den Konflikt zu Bedingungen
Israels einzufrieren und gleichzeitig die USA von arabischer Kritik
frei zu halten. Traurigerweise hat Bush mit seinem schalen Gerede von
einer Vision ein Vakuum geschaffen, die Verwirrung vergrößert,
Verantwortung abgegeben und der Sache des Friedens geschadet."
"Corriere della Sera":
"Arafat konnte oder wollte nicht die radikalsten Organisationen
auf palästinensischer Seite unter Kontrolle halten und hat es
sicherlich erlaubt, dass die Autonomiebehörde eine der korruptesten
Behörden in der Region wurde. Aber er hat sich mit israelischen
Regierungen auseinander setzen müssen, die die Vereinbarungen von
Oslo verwässern oder sabotieren wollten. (...) Sind wir wirklich
sicher, dass Arafat nach der jüngsten Erklärung von Bush tatsächlich
erledigt ist? Der unerschütterliche Optimismus, mit dem er auf die
amerikanischen Äußerungen reagiert hat, scheint zu beweisen, dass der
alte 'Lügner' noch ein Ass im Ärmel hat. Bevor man das Wort 'Ende'
schreibt, sollte man besser seinen nächsten Schachzug abwarten."
"de Volkskrant":
"Wer sich Mut bewahren will, findet in der Rede von Bush über den
Nahen Osten auf jeden Fall einen Anknüpfungspunkt. Der amerikanische
Präsident bestätigt, dass der Konflikt zwischen Israel und den
Palästinensern nur gelöst werden kann, wenn die Palästinenser einen
eigenen unabhängigen Staat erhalten. Darüber hinaus wird es aber
schwieriger, optimistisch zu bleiben. Wenn es nämlich um die
konkreten Schritte geht, die beide Seiten unternehmen müssen, um
dieses Ziel zu erreichen, enttäuscht Bushs lange erwartete Rede doch
sehr. Fast die völlige Last des Konflikts wird auf die Schultern der
Palästinenser gelegt. (...) Sharon kann sich behaglich zurücklehnen,
bis die Palästinenser ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht
haben." (APA)