Wien - Den Rekord an Sprachkenntnissen hält angeblich ein französischer Geistlicher aus dem siebzehnten Jahrhundert. Als ihn der Sonnenkönig fragte, ob denn das Erlernen von über sechzig Sprachen nicht schwer war, antwortete er: "Schwer war nur das erste Dutzend, Sire."Die meisten haben gegenteilige Erfahrung: Je älter wir werden, desto mehr Mühe bereiten uns fremde Sprachen. Doch zwischen dem zweiten und achten Lebensjahr geht das Sprechenlernen fast von selbst. Der Linguist Noam Chomsky hat daraus auf eine universelle Fertigkeit geschlossen: Es müsse eine angeborene Struktur geben, die es jedem Kind in erstaunlich kurzer Zeit erlaubt, aufgrund von relativ wenigen Schlüsselreizen die unendliche Vielfalt aller möglichen Sätze einer Sprache zu beherrschen. Chomsky weigerte sich lange, diese angeborene Anlage - ein veritabler Sprachinstinkt - als Produkt natürlicher Selektion zu sehen. Heute aber sehen viele Linguisten und Biologen die menschliche Sprache als den bislang letzten der "großen Übergänge" in der Evolution. Einer der erfolgreichsten ist der in Princeton tätige Wiener Martin Nowak. Warum interessieren sich gerade theoretische Biologen für die Entwicklung der Sprache? "Die Biologie", sagt Nowak, "basiert auf einem Alphabet von vier Nukleotiden, das gemeinsam mit ein paar chemischen Regeln die unbeschränkte Vielfalt lebendiger Organismen ermöglicht. Die Sprache beruht ebenfalls auf einigen wenigen Lauten und grammatischen Regeln, die es erlauben, eine unbeschränkte Vielfalt an Information weiterzuleiten." Dieser kombinatorische Aspekt - die Aneinanderreihung von kleinen Einheiten zu riesigen Strukturen von enormer Komplexität - fasziniert auch Mathematiker und Computerwissenschafter. Denn die zwei wichtigsten Ereignisse der letzten vier Milliarden Jahre sind laut Nowak informationstheoretischer Natur: "Bakterien haben die Genetik erfunden, und Menschen die Sprache." (Karl Sigmund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 26. 6. 2002)