"Martha ... Martha": Das Sozialdrama einer Kleinhäuslerfamilie erzählt die Filmemacherin Sandrine Veysset, als wär's ein Märchen oder eine Gruselgeschichte.


Wien - Über die junge französische Autorin und Regisseurin Sandrine Veysset könnte man sagen: Sie hat einen derart unverstellten Blick auf die Realität, dass sie eigentlich in der Tradition fantastischer Novellen und Schauerromane "gelesen" werden muss.

Gibt es zu Weihnachten Schnee? etwa, Veyssets Debütwerk, erzählte zwar mit peinigender Genauigkeit den Fall einer Frau, die - als Magd und Geliebte eines Bauern, des Vaters ihrer Kinder - irgendwann keinen anderen Weg sieht als den der Auslöschung ihrer Sippe. Veysset wählte dafür aber "junge", träumerische Perspektiven, die noch an Märchen glauben:

"Blicke" aus der Frühzeit des Kinos, in denen so manche Schwarzblende die Protagonisten zu Verdammten wie in einem frühen Meisterwerk von Murnau oder Dreyer macht. Und (in der Erzählung selbst) "Blicke" von Kindern, die im Ödland aus ihren spärlichen Spielsachen Fantasiewelten konstruieren. Für sie wird die reale familiäre Katastrophe zum märchenhaften Hintergrund wie das Dilemma des Holzfällers und seiner Frau in Hänsel und Gretel.

Auch Martha ... Martha, Veyssets bis dato dritter Film, lebt aus diesem Dialog zwischen einem lebensfeindlichen Ambiente und einer märchenhaften Lesart von Schmerz. Für den Mann etwa, der hier seine Frau nicht vor dem Fluch ihrer versehrten Kindheit "retten" kann, mag sie wie die kleine Seejungfrau des Hans Christian Andersen erscheinen: Ein Wasserwesen, das es gut mit seinen Geliebten meint. Allein: "Das Wasser ist tief, tiefer, als irgendein Ankertau reicht."

Martha ... Martha: Schon der Titel spielt auf denkwürdige Weise mit Leerstellen und Schwellen, über die man nicht hinwegkommt. So, als würde man anheben zu einer Aussage über die Titelheldin, dann aber einsehen, dass sich so eine Wertung schnell verbietet, ja einer Vorverurteilung gleichkommt.

Martha (Valérie Donzelli) ist Martha. Mit ihrem Mann (Yann Goven) und ihrer Tochter (Lucie Regnier) zieht sie von Markt zu Markt, um gebrauchte Kleider zu verkaufen. Der Ertrag daraus ist zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Und als wäre die nomadenhafte Existenz nicht schon Belastung für Kind und Familie genug, kommen dazu noch Marthas unberechenbare Ausritte: hier eine Nacht durchgetanzt, dort von irgendwelchen Typen abgeschleppt, dann wieder in einem Wahnsinnsauftritt das Kind erschreckt.

Soll man diese Frau vor sich, das Kind vor ihr oder die Familie als Ganzes retten? Im Kino von Sandrine Veysset stellen sich solche Fragen kaum. Es ist wie in den Horrorgeschichten, in denen nicht klar ist, wer unter dem größeren Defekt leidet: das Monster oder sein Retter. Man könnte, auch aus der Perspektive des Mannes, Martha ... Martha als Erzählung über Menschen lesen, die sich im Unheil einrichten - als wäre Selbstverletzung der beste Selbstschutz.

Und Wasser ist dabei fast magnetisch wirksam: Als ruhiger, schlammiger Strom, dem man sich kaum entziehen kann. Schließlich als tosendes Chaos rund um ein altes Wasserwehrhaus, zwischen dessen feuchten Wänden und modrigen Zimmern alles lebensfeindlich erscheint. Das denkbar Schönste über dieses Szenario hat - in einem Gespräch mit Sandrine Veysset - die Filmemacherin Agnès Varda gesagt:

"Am Ende ist da so viel Wasser, dass man es zwangsläufig mit der Angst zu tun bekommt. Vor allem, weil die Masse dieses Hauses der Kindheit wieder vage zu sehen war. Es gibt viele Dinge in deinem Film, die nur schlecht oder ungenau zu sehen sind und die dennoch viel ausmachen. Worte, die da und dort einfach fallen - du bist Meisterin darin, Neugierde zu wecken. Und man weiß, wenn die Mutter und die Tochter spazieren gehen, beide in Gefahr ... Zu sehen ist da der Mann, der unablässig Holz hackt. Er macht ein großes Feuer im Kamin. Ich dachte da wirklich: 'Könnte dieses große Feuer das Wasser löschen?' Am liebsten würde man jede einzelne Person trösten." (DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2002)