Wimbledon - Hamish, der dressierte Falke, der den Centre Court vor Tauben schützt, damit diese widerlichen Viecher, denen nix und niemand heilig ist, die Royal Box nicht voll gacken, weiß vermutlich nicht, dass heute die 116. All England Championships beginnen. Er ist ja nur ein Vogel.

Hamish macht seinen Job Tag für Tag, auch in der tennisfreien Zeit. Die dauert elf Monate und zwei Wochen pro Jahr. Der Falke ist heuer zum dritten Mal anwesend, hat fast Tradition. Er verjagt die Tauben, frisst sie nicht. Obwohl er Gusto hätte. Der Mensch schreckt sogar in Wimbledon vor nichts zurück. Die Grashalme sind aber immer noch exakt acht Millimeter lang. Und Pete Sampras ist schon zum 14. Mal dabei.

Mit einer Tradition musste gebrochen werden. Usus ist, dass der regierende Champion eröffnet. Das wäre diesmal Goran Ivanisevic. Als er 2001 gegen Patrick Rafter gewonnen hatte, meinte er, notfalls würde er "ohne Schulter" erscheinen. Das war, wie sich nun herausstellte, im Überschwang der Gefühle einfach nur daher gesagt. Ivansevic ist verletzt und nicht da, hat sehr wohl beide Schultern. Der gesunde Andre Agassi (Sieger 1992) darf gegen Harel Levy beginnen und fühlt sich geehrt.

Der sentimentale Favorit

Sampras ist sentimentaler Favorit. Seit zwei Jahren, seit dem siebenten Streich an dieser Stelle, hat er den 63 Turniersiegen keinen weiteren hinzugefügt. Stefan Koubek hätte am Samstag beinahe ein Treffen mit dem Legendären gehabt, anlässlich einer Exhibition. Sampras wollte noch einmal die Form testen, gegen einen beliebigen Linkshänder, weil er heute auf einen solchen, nämlich Martin Lee, trifft. Die ATP organisierte ihm Koubek. Sampras sagte wegen akuter Rückenbeschwerden spontan ab. Mark Philippoussis sprang ein und schlug Koubek 7:5, 7:6.

Sampras hat sich an Niederlagen gewöhnt. Als er uneingeschränkt herrschte, "wollten mich die Leute immer nur verlieren sehen. Jetzt möchten sie genau das Gegenteil. Ich bin ihnen sympathisch geworden, sie haben fast Mitleid. Diese Zuneigung macht das Verlieren erträglicher." Ein Vergleich mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft drängt sich förmlich auf: Sie wird erst beliebt sein, wenn sie bei der WM endlich ausgeschieden ist.

Das "enfant terrible"

John McEnroe, der Franz Beckenbauer des Tennis, traut Sampras aber nach wie vor einen Coup zu. "Weil er weiß, wie es geht." Generell sei, so McEnroe, das Herrentennis ausgeglichen wie nie zuvor. "Dass ein Albert Costa die French Open gewinnt, gibt jedem Spieler Hoffnung."

In Wimbledon hoffen traditionell Tim Henman und Greg Rusedski, wie seit Jahren sagen sie auch diesmal und meinen nicht den anderen. "Dass Schicksal will, dass ich mir die Krone aufsetze." Der letzte gekrönte Engländer war Fred Perry im Jahre 1936. Rusedski spielt heute gegen den Niederösterreicher Jürgen Melzer, von dem er nie gehört hat. Was Melzer recht ist. Der im Oberschenkel gezerrte Markus Hipfl trifft auf Nicolas Thomann, Barbara Schwartz auf Els Callens. Barbara Schett (gegen Cara Black), Koubek (Justin Bower) und Julian Knowle (Michael Llodra) haben bis Dienstag Zeit.

Das Finale der Damen werden höchstwahrscheinlich Venus und Serena Williams bestreiten, damit es ja eintönig bleibt. Sister-Act, vom ehrgeizigen Papa Richard getriebene Ghetto-Twins und so weiter. Venus sagt, es klingt wie eine Drohung: "Wir beide stehen erst im ersten Drittel unserer Karrieren."

Sehr traurig

Vor ein paar Tagen hat die nicht einmal 46-jährige Martina Navratilova in Eastbourne die 22. der Rangliste, Tatjana Panowa, glatt geschlagen. Navratilova meinte dann, sie hoffe, dem Tennis nicht geschadet zu haben. Natürlich hat sie. Vielleicht verzichtet sie deshalb auf einen Einsatz im Einzel. Panowa trifft heute auf eine andere traurige Gestalt, auf Anna Kournikowa. Die trainierte in einer schwarzen, kurzen Hose, das sahen die Offiziellen gar nicht gerne, also musste sie sich eine weiße von ihrem Trainer borgen.

Dem englischen Boulevard war diese wahrlich komische Geschichte ein einspaltiges Foto und ein paar Zeilen wert. Hamish hat es nicht gelesen. Er ist ja nur ein Vogel. (Printausgabe Der Standard, 24.06.2002)