Die Berichte über die Vorgänge in Vilnius - die "Blutnacht" vom 13. Jänner 1991 - lösten im Ausland allgemeine Empörung aus. Auch der gerade in Tallinn verhandelnde Boris Jelzin, damals schon Präsident der RSFSR, verurteilte die Aktion und rief die Soldaten auf, verbrecherische Befehle nicht zu befolgen. Nach der Schreckensnacht blieben die Truppen im Fernsehzentrum, im Verteidigungsministerium und in den Kasernen im Land Gewehr bei Fuß. Das sollte noch Monate dauern.Vytautas Landsbergis, Präsident der vom Kreml nicht anerkannten litauischen Republik, gab nicht auf. Er rief das Volk zu einem Referendum auf. Bei einer Beteiligung von 84,7 Prozent sprachen sich 90,2 Prozent für und nur 5,5 Prozent gegen die Unabhängigkeit aus. Noch einmal schien sich die Lage gefährlich zuzuspitzen, als KP-Altfunktionäre und Militärs gegen Gorbatschow putschten. Sie konnten, nicht zuletzt dank Jelzins Initiative, das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, und rissen ihr Opfer Gorbatschow mit in die Machtlosigkeit. Am 6. September 1991 beschloss der Oberste Sowjet, die Unabhängigkeit der drei baltischen Republiken anzuerkennen; am 17. September wurden diese in die UNO aufgenommen. Am 25. Dezember löste sich die Sowjetunion auf. Letztlich hatte Litauens Widerstand den Weg dazu gebahnt. Die letzten russischen Truppen verließen erst nach langen Verhandlungen zwischen Landsbergis und Jelzin Ende August 1993 das Land, wobei es vor allem um Probleme im Zusammenhang mit dem Nachschub für das nun von Russland völlig abgetrennte Kaliningrad/Königsberg ging. Die ersten Wirtschaftsreformen bei gleichzeitigem Exportrückgang infolge des Verlustes des bisherigen großen Binnenmarktes und mühsamer Umorientierung auf den Weltmarkt hatten zu spürbaren Verteuerungen und wachsender Arbeitslosigkeit beigetragen. Besonders die Rentner, aber auch die öffentlich Bediensteten waren davon betroffen. Für Grundnahrungsmittel mussten wieder Bezugsscheine eingeführt werden. Die Erdöllieferungen aus Russland wurden wegen Zahlungsrückständen zeitweise gestoppt. Die Sajudis-Regierung musste mehrmals umgebildet werden, nachdem ihre erste Ministerpräsidentin Prunskiene in den Verdacht früherer Tätigkeit für den KGB geraten war. Bei den ersten Wahlen in der wiedererstandenen Republik am 25. Oktober 1992 unterlag die Sajudis der zur Litauischen Demokratischen Arbeiterpartei (LDDP) gewandelten KP, die 73 der 141 Mandate im Seimas errang. Brazauskas wurde mit 60 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt. Die LDDP-Regierung von Adolfas Slezevicius setzte den Reformkurs mit größerer sozialer Rücksichtnahme fort und bemühte sich um gute Beziehungen zum Westen wie zu Russland. Eine eigene Währung, der Litas, wurde eingeführt. In einem von Brazauskas und dem polnischen Präsidenten Lech Walesa in Vilnius unterzeichneten Freundschaftsvertrag wurde die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen betont; die Minderheitenrechte der sieben Prozent Polen im Wilna-Gebiet wurden anerkannt. Am 4. Jänner 1994 stellte Brazauskas für Litauen als erstes Land der ehemaligen Sowjetunion einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Nato (trotz der auf Bündnisfreiheit des "nahen Auslandes" pochenden russischen Doktrin wurden die baltischen Staaten 1997 als potenzielle zukünftige Nato-Mitglieder anerkannt). Aus der zerfallenden Sajudis-Bewegung hatte Landsbergis seine Anhänger in einer neuen, konservativen "Vaterlandsunion" (TSLK) zusammengefasst. Durch den Zusammenbruch zweier großer Banken geriet die Regierung der Arbeiterpartei zunehmend in Schwierigkeiten. Bei den Wahlen von 1996 erhielt sie statt der bisherigen 73 nur noch zwölf Sitze im Seimas. Landsbergis' Vaterlandsunion verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit; unter dem Ökonomen Gediminas Vagnorius wurde eine Mitte-rechts-Koalition gebildet. Sie setzte auf einen verstärkten Privatisierungskurs. Bei Präsidentenwahlen 1997, für die der beliebte Brazauskas nicht mehr kandidierte, siegte überraschend der parteilose "Heimkehrer" Valdas Adamkus, der kurz zuvor seine US-Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte. Die Parlamentswahlen im Jahr 2000 führten erneut zu einem Machtwechsel (der, wie bisher, am außenpolitischen Kurs nichts grundsätzlich änderte). Die vom 69-jährigen Brazauskas geführte Sozialdemokratische Koalition wurde mit 31,3 Prozent stärkste Fraktion. Nach dem baldigen Scheitern einer Mitte-rechts-Regierung löste diese 2001 eine Mitte-Links-Koalition unter dem zum Premier gewählten Brazauskas ab. Mit Enttäuschung hatte Litauen die Entscheidung der EU aufgenommen, vorerst unter den baltischen Staaten nur Estland für die Erstverhandlungen über eine "Osterweiterung" zu nominieren. Ende 2000 bescheinigte die EU-Kommission Litauen jedoch erstmals eine funktionierende Marktwirtschaft, verlangte aber weitere Reformen, besonders in der Landwirtschaftspolitik. 2001 führte Litauen in der zweiten Staatengruppe, mit der inzwischen Verhandlungen begonnen hatten, mit 13 abgeschlossenen Bereichen. Im Jahr 2002 dürfte Litauen nach Abschluss der Verhandlungen in die erste Erweiterungsrunde aufrücken. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23. 6. 2002)