Alltag
Der Schönheitswahn wirkt auch nach innen
Kommunikationsforscher Norbert Bolz sieht tiefgreifende Veränderung des Ichs als Folge
Essen - Schönheitsoperationen und Biotechnik verändern
nicht nur das Äußere des Menschen, sondern werden nach der
Einschätzung des Trendanalytikers Professor Norbert Bolz auch Denken
und Charakter beeinflussen. "Wenn ein Mensch bisher Charakter oder
Identität hatte, war das auch Ergebnis seiner Schwächen, Ticks und
körperlichen Eigenheiten. Das Besondere an ihm war die Abweichung von
der Norm", sagte der Kommunikationsforscher von der Universität
Essen. Heute ließen immer mehr Menschen ihren Körper nach
Schönheitsnormen "systematisch optimieren" - das bedeute die
"Ausmerzung des Besonderen". Dabei sei die Arbeit am Körper zu einer
"Ersatzreligion" geworden.
Zurück zum kreatürlichen Ich
Körperliche "Makel" beeinflussen auch den Charakter: Wenn ein Kind
bisher zum Beispiel wegen seiner Ohren ausgelacht wurde, musste es
lernen, darauf zu reagieren. Auch mit dem Alterungsprozess habe man
sich gedanklich abfinden müssen, erläuterte Bolz. "Die bürgerliche
Identität war als Selbstbewusstsein über das gegebene kreatürliche
Ich und über Vergänglichkeit definiert. Dagegen arbeitet unsere
Gesellschaft heute an", sagte Bolz ("Am Ende der Gutenberg-Galaxis",
"Die Konformisten des Andersseins"). Welche Form ein neues
Selbstbewusstsein künftiger Generationen annehmen werde, sei noch
offen.
Einen Eckpunkt kann er schon erkennen: "Es macht den Menschen
immer weniger Probleme, ihre Identität mit künstlichen Eingriffen zu
verknüpfen." Selbst ein Computerchip - etwa für mehr Intelligenz -,
sollten ÄrztInnen ihn ins Gehirn einpflanzen, würde so als Teil des
selbst geplanten Ichs akzeptiert. Auch die Skrupel gegen heute
verbotene Korrekturen am eigenen genetischen Bauplan sieht Bolz
schrumpfen.
Sinnsuche
Hintergrund der Entwicklung ist nach der Analyse des Professors
für Kommunikationstheorie die beständige Suche nach Sinn im Leben.
Nach der Religion hätten Ende des 20. Jahrhunderts auch die
politischen Ideologien beim "großen Projekt der Selbstverwirklichung"
ihre Kraft als "Sinnstifter" eingebüßt. "Das wirft den Menschen bei
der Sinnsuche auf seinen Körper zurück."
Ein anderer Aspekt sei die Schnelllebigkeit im TV- und
Computerzeitalter: "Das Leben ist ein großer Kampf um Aufmerksamkeit.
Und da heute elektronische Medienbilder mehr denn je zählen, gewinnt
der schnelle äußere Eindruck an Gewicht", urteilte Bolz. Dieses
Zeitphänomen verstärke den Trend, das Aussehen mit
Schönheitsoperationen zu verändern. (APA/dpa)