Berlin/Zürich - Der bürgerlich-konservative Wahlsieg in Frankreich und die neue Machtfülle für Staatspräsident Jacques Chirac werden am Montag von zahlreichen europäischen Blättern kommentiert."Handelsblatt": "Frankreichs neuer Muskelmann der politischen Gattung heißt endgültig Jacques Chirac. (...) Die Wähler haben ihm neue Muskeln verpasst. Erst machten sie ihn zum zweiten Mal zum Präsidenten, um den rechtsextremen Finsterling Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Und nun gaben sie ihm auch noch eine klare Mehrheit in der Nationalversammlung. (...) Was tun mit so viel Kraft? Steuern und Sozialabgaben senken, Kriminelle bekämpfen, Verteidigungsausgaben erhöhen - das jedenfalls hat Kraftmeier Chirac versprochen. Und, wichtiger noch: die Produktivkräfte durch Abbau von Bürokratie freigeben, den Staat auf Diät setzen. Klingt gut und ist dringend vonnöten. Denn auch wenn Frankreich nach 1997 einen beeindruckenden Wirtschaftsboom erlebt hat, gerät sein etatistisches Modell durch Globalisierung und Unbeweglichkeit immer mehr unter Druck. Aber aus zwei Gründen ist Skepsis angebracht. Erstens: Als mutiger Modernisierer ist Chirac in seiner fast vierzigjährigen Karriere nie aufgefallen. Der gewandte Opportunist der Macht hat schon alle Positionen vertreten: in den 80er-Jahren Reagan-Liberaler, Mitte der 90er Streiter gegen soziale Ausgrenzung. Anno 2002 klingt Chirac am ehesten wie ein 'mitfühlender Konservativer' a la George W. Bush." "Stuttgarter Zeitung": "Welch eine Wendung der Geschichte! Jetzt ist er der große Sieger. Jacques Chirac stand jahrelang als schwacher Präsident auf der großen Bühne der Französischen Republik. Nach außen setzte er zu Beginn seiner ersten Amtszeit mit überflüssigen Atomtests peinliche Signale. Nach innen verspielte er dilettantisch die Mehrheit seines eigenen Lagers an die Linke, als er vor fünf Jahren völlig überraschend Wahlen ansetzte und grandios verlor. Quälende Jahre der Erstarrung folgten. (...) Jetzt hat der 69-Jährige das Blatt gewendet. Innerhalb weniger Wochen hat Chirac in vier Wahlgängen Sieg um Sieg errungen. Vorbei mit der verhassten Kohabitation! Schon vergessen ist Lionel Jospin, der frühere sozialistische Premier. Der Präsident kann jetzt zusammen mit den Seinen in der Nationalversammlung und im Senat schalten und walten, wie er will. (...) Jetzt freilich gilt keine Ausrede mehr. Jetzt muss der Präsident zeigen, dass er hält, was er versprochen hat. Und er hat viel versprochen." "Financial Times Deutschland": "Nach dem Sieg seines Lagers ist Jacques Chirac mit einer Machtfülle ausgestattet wie kein französischer Staatschef vor ihm. Die Konservativen beherrschen jetzt die Nationalversammlung und den Senat. Zudem stellen sie die Mehrheit der Richter im Verfassungsgericht. Damit verfügt der Präsident, dem laut Verfassung mehr Kompetenzen zufallen als den Staatschefs der meisten anderen Demokratien, über alle Voraussetzungen, um sein Land zu reformieren. Alle Erfolge, aber auch alle Missgriffe werden künftig ihm zugeschrieben werden. (...) Chirac muss zudem Frankreichs Rolle in Europa und der Welt neu definieren. Ein starkes Frankreich ist gut für die EU, vorausgesetzt, es findet die Balance zwischen nationalen und europäischen Interessen. Der Lackmustest dafür wird Chiracs Bereitschaft sein, seine Steuerversprechen mit den Stabilitätsverpflichtungen im Euro-Raum in Einklang zu bringen." "Neue Zürcher Zeitung": "Die Mehrheit der Rechten fiel nicht so erdrückend aus wie 1993. Dies dürfte immerhin auch den Vorteil haben, dass die Mehrheit im Parlament etwas leichter zusammenzuhalten sein wird als jene in der vorletzten Kammer, deren Auflösung zum Debakel der Rechten von 1997 geführt hatte. (...) Die erwartete Bipolarisierung zwischen UMP (Union für die Präsidentenmehrheit) und Sozialisten ist in der neuen Kammer eindeutig. Auch die knapp gerettete Kommunistenfraktion wird am faktischen Monopol der Sozialisten im Lager der Opposition angesichts des weitgehenden Verschwindens aller anderen Komponenten der früheren Linksmehrheit kaum mehr etwas zu ändern vermögen. Wiederum nicht im Parlament vertreten ist der rechtsextremistische Front national Le Pens." "Tages-Anzeiger" (Zürich): "Chirac hält nun also alle Macht in der Hand. Bleibt die Frage, was er damit anzufangen weiß. Nicht viel, ist zu befürchten. Die Skepsis erklärt sich aus der Vergangenheit. Seit vierzig Jahren spielt Chirac auf der politischen Bühne Frankreichs. Lange genug, um bewiesen zu haben, dass von ihm keine Impulse für eine gesellschaftliche Erneuerung und politische Wiederbelebung des Landes mehr zu erwarten sind. Chirac ist nicht nur kein Neuerer, er ist ein Teil des alten Frankreich, das in der Krise ist (...) Frankreich kann sich solch rastenden Stillstand nicht mehr erlauben. Das Land benötigt dringend eine lösungsorientiertere politische Kultur. Jacques Chirac wird dazu kaum einen Beitrag leisten. Der Missmut im Land wächst derweil weiter". "Volkskrant" (Den Haag): "Vor sieben Wochen war Chirac noch der schwächste Präsident der Fünften Republik. Nach fünfjähriger aufgezwungener Kohabitation gelang ihm bei der Präsidentenwahl das Weiterkommen nur mit dem bisher schwächsten Ergebnis (19 Prozent). Nach seiner Wiederwahl und nach dem Ausgang der Parlamentswahl erscheint dieser Chirac nun als Präsident, der fester im Sattel sitzt als alle Präsidenten im letzten halben Jahrhundert. In den kommenden fünf Jahren kann man in Frankreich mit Fug und Recht von einer republikanischen Monarchie sprechen. (...) Die Franzosen haben beschlossen, den wiedergewählten Präsidenten mit einer überwältigenden eigenen Mehrheit zu ermutigen. Weg mit der links-rechten Kohabitation. Die Fünfte Republik scheint fester verwurzelt zu sein denn je." "Corriere della Sera" (Mailand): "Im Grunde ihrer Seele haben die Franzosen das Bedürfnis nach Gewissheit und Sicherheit (und das auch physisch gesehen, betrachtet man etwa den erheblichen Anstieg der Kriminalität), und genau dies haben sie diesmal bei den Wahlen deutlich gemacht. Besser eine solide Mehrheit auch im Parlament, als jene lange und verwirrende Periode der institutionellen Kohabitation. Besser der ewige und alte Chirac (der sich seit 35 in den Gefilden der Macht bewegt), als das obskure Abgleiten ins Le-Pen-Lager. Besser der 'provinzielle' Raffarin, der neue Premier, als diese aufklärerische Lektion des Professors Jospin ..." "Il Messaggero" (Rom): "Auch Le Pen, der noch vor weniger als einem Monat geradezu hysterische Alarmrufe über die drohende Gefahr heraufbeschworen hatte, ist am Boden. Allerdings kann es schon etwas paradox anmuten, dass eine politische Formation mit über zehn Prozent Zustimmung bei einer Wahl mit keinerlei parlamentarischer Vertretung rechnen kann, nicht einmal mit einer symbolischen. Alles in allem ist Frankreich wohlbehalten aus dieser langen und quälenden Wahlperiode hervorgegangen. Was allerdings nicht sagen will, dass für die Mehrheit, die jetzt an die Regierung berufen wird, in den nächsten fünf Jahren alles einfach sein wird." "The Independent" (London): "Diese Schlussrunde der französischen Wahlen ist von der Rechten als historische Gelegenheit präsentiert worden, dringend erforderliche Reformen voranzutreiben, die Dynamik des französischen Volkes zu entfesseln und Europa aus seiner gegenwärtigen Stagnation zu befreien. Die Linke stellt das Ganze als eine Ermutigung zur Fremdenfeindlichkeit hin und als eine Einladung zur unvermeidlichen Korruption noch größerer absoluter Macht als unter normalen Umständen. Vermutlich haben beide Seiten Recht." "El Mundo" (Madrid): "Die überraschenden Stimmengewinne der extremen Rechten in der ersten Runde der Präsidentenwahl zeigen nun Folgen. Jacques Chirac wurde mit einer Machtfülle ausgestattet, wie sie noch kein Präsident in der Fünften Republik besessen hatte. Dabei steht Chirac bei der Justiz unter Verdacht, er gilt als verbraucht, und seine politische Karriere ist voller Enttäuschungen und Fehlkalkulationen. Jean-Marie Le Pen räumte für ihn Lionel Jospin aus dem Weg. Heute kann Chirac sich nicht nur auf ein Mandat für weitere fünf Jahre stützen, sondern auch auf eine erdrückende Mehrheit in der Nationalversammlung. Er hat die Möglichkeit, seine politischen Vorstellungen zu realisieren. Dennoch wird er es nicht immer leicht haben." "Magyar Hirlap" (Budapest): "Bisher haben sich allein Tony Blair und der Generalstab der 'New Labour' vom 'ideologischen Elend' befreit und den Dritten Weg in Form des so genannten Sozial-Liberalismus gefunden. Kann sein, dass sie noch erfolgreiche Nachahmer finden werden. Unabhängig davon beeilen sich bloß die eingefleischten Feinde der sozialdemokratischen Bewegung, diese zu Grabe zu tragen. Denn diese wird auch in der Opposition als Alternative zum Konservativismus und Liberalismus bestehen bleiben, geduldig auf die Rückkehr besserer Zeiten wartend." "Kommersant" (Moskau): "Die Parlamentswahlen in Frankreich haben gezeigt, dass die Begeisterung für die Sozialdemokraten in Westeuropa abnimmt und dass nunmehr die Rechten an deren Stelle treten. Die Wahlen in Tschechien dagegen haben genau das Gegenteil ergeben: Osteuropa betritt gerade den feierlichen Abschnitt der Sozialisten. Aber beide Wahlen gemeinsam lassen eine bedeutsame Schlussfolgerung zu: Europa ist noch weit davon entfernt, einheitlich zu sein, zumal ihr östlicher Teil in der Entwicklung noch einen ganzen Zyklus hinter dem Westen zurückliegt." (APA)