Den Wert der diesjährigen Festwochen wird man an der Off-Theaterreihe "forumfestwochen ff" messen dürfen: Sie zeigt, was das Theater heutzutage vermag. Wien - Das Theater hält uns auf Distanz zum eigenen Sein. Und doch möchten wir mit seiner Kunst nichts sehnlicher, als an das Leben herankommen, es als Ausschnittsganzes begreifen und erfahren, was es mit uns anstellt. Explizit diesen Wunsch, die Erkenntnis und deren Beweis, erneuerte in den letzten Wochen das gänzlich unspekulative und in seiner nunmehrigen Ausrichtung auf unbekannte, im globalen Dorf verschollene Theaterproduktionen äußerst signifikante Programm von forumfestwochen ff , der Off-Theaterreihe der heurigen Festwochen. Dieses hat dem Publikum den Eindruck vermittelt: Hier wurde recherchiert; hier wird gearbeitet. Ein Arbeitsfestival also, welches das Großprogramm daneben eingehend kontrastiert: In einem Zeitraum von eineinhalb Jahren haben der Dramaturg Stefan Schmidtke und die Schauspielleiterin Marie Zimmermann, "zwischen 45 und 65 Reisen" angetreten, um von Basel bis Irkutsk (Schwerpunkt ist der Osten: Baltikum, Russland, Ukraine, Sibirien) Theaterkommunitäten auszuforschen, die im engeren europäischen Kontext (noch) nicht kommuniziert sind. Es sind Produktionen, die, weil einem jeweiligen historisch-gesellschaftspolitischen Kontext entwachsen, roher, drängender und ästhetisch provokanter auftreten als das Theater der in leidlicher Übereinkunft lebenden Teile Europas. "Von der Wirklichkeit und anderen Erfindungen" lautet der Untertitel der Reihe, und er meint ein "Theater", das direkt auf das Leben zugreift, konkrete Erfahrungen von Wirklichkeit auf die Bühne stellt. "Wir wollten einen Erfahrungsraum aufreißen", so Zimmermann. Vor allem die postsowjetischen Staaten haben "eine andere Tatsache von Realität. Es gibt dort andere lokale Koordinaten dessen, was man Realität nennt." Schmidtke, nach seinem Regiestudium in Moskau im Leitungsteam an der Berliner Baracke, danach bei "Theaterformen", hat, des Russischen mächtig, Feldforschung betrieben - von Omsk, wo er auch lebte, bis Tallinn: "Man nimmt die Bewegungen innerhalb der Gesellschaft dort viel stärker wahr, weil die Länder mit fundamentaleren Problemen beschäftigt sind, nämlich wieder Säulen zu setzen für einen Gesamtzusammenhang, was Öffentlichkeit oder künstlerische Freiheit anbelangt. Was als Realität wahrgenommen wird, ist viel beweglicher im Sinne von ständiger Änderung, weil z. B. freie Fernsehstationen wieder geschlossen werden."
Mörder in Estland
Höhepunkt der Präsentationsreihe war der erstmals im deutschen Sprachraum gezeigte Planeta -Abend des von Kaliningrad aus die Metropole Moskau beobachtenden Jewgenij Grischkowez - simultan übersetzt von Stefan Schmidt- ke ( DER S TANDARD berichtete). Ihm war jene theatralische Betriebstemperatur eigen, die andere Produktionen gar nicht aufkommen ließen: Sny / "Träume", ein Drogenrausch-Stück aus Sibirien, oder Save our souls , ein auf der Basis von Lebensgeschichten in Estland inhaftierter Mörder erarbeitetes "Dokumentarium" von Merle Karusoo. Das soziologisch untermauerte Theatermodell der 58-jährige Regisseurin war ein gutes Beispiel für die im konkreten gesellschaftlichen Kontext verhaftete Theaterarbeit der neuen Länder: Die Kriminalitätsrate in Estland steht in direkter Proportion zu den Risikofaktoren der nach dem russischen Rückzug heimatlos gewordenen Menschen. Im Hintergrund hat forumfestwochen ff den Impuls des ehedem gescheiterten "Regiewettbewerbs" weitergedacht und Workshops, Diskussionen und Lesungen als Plattform für junge Theaterleute installiert. Insgesamt 125 Teilnehmer von Athen bis Amsterdam, Georgien bis Sizilien arbeiteten jeweils eine Woche mit Gastproduzenten zusammen. Eine verdienstvolle Weichenstellung in einem wertvollen Festival. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2002)