STANDARD: Seit einigen Jahren wächst in Tschechien die Unzufriedenheit der Bürger mit der Politik und vor allem den Politikern. Woran liegt das? Mlynar: Ich habe das Gefühl, dass heute in Tschechien ganz einfach Politiker fehlen, mit denen die Bürger ihre Zukunftshoffnungen verbinden. Das war zum Beispiel 1989 der Fall, wo Václav Havel für die meisten das Symbol des Übergangs vom Kommunismus zur Demokratie verkörperte. Später war es wiederum Václav Klaus, der einen schnellen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft versprach. Vor vier Jahren haben sich viele Tschechen mehr soziale Sicherheit gewünscht und Milos Zeman und dessen Sozialdemokraten damit verbunden. Eine solche markante Persönlichkeit, die zum Symbol für die politische Erneuerung werden könnte, fehlt uns aber heute. STANDARD: Entsagen junge Menschen in Tschechien jeglichem politischen Engagement? Mlynar: Nein, aber es fehlt eine geeignete Plattform. Ich bin erstaunt, wie viele junge Menschen aus dem linksalternativen Bereich, die gegen die Globalisierung eintreten, heute Anhänger der Kommunisten sind. Die Kommunisten haben sich aber paradoxerweise überhaupt nicht verändert und schon gar nicht den jungen Menschen angepasst. STANDARD:Noch vor einem Jahr führte die Koalition aus Christdemokraten und Freiheitsunion sämtliche Umfragen an. Nun liegt die Koalition abgeschlagen auf Rang drei. Welche Fehler hat sie gemacht? Mlynar: Unser Hauptfehler bestand und besteht leider darin, dass wir in unseren Reihen keine natürliche Führungspersönlichkeit haben. Bisher ist es nicht gelungen, die große Lücke nach dem frühzeitigen Tod von Josef Lux (dem früheren Chef der Christdemokraten, der die ursprüngliche Viererkoalition ins Lebens rief, Red.) zu schließen. STANDARD: In den letzten Wochen vor den Wahlen sind die Sozialdemokraten und die Bürgerlichen mit starken nationalen Tönen auf Stimmenfang gegangen. Besteht nicht die Gefahr, dass damit der sprichwörtliche Geist aus der Flasche gelassen wurde? Mlynar: So ist es, und ich halte das, was sich Václav Klaus und Milos Zeman in dieser Hinsicht geleistet haben, für verantwortungslos. Ich hoffe, dass Klaus lediglich versucht, die Stimmen der EU-Gegner aufzufangen, nach den Wahlen aber wesentlich mehr Sachlichkeit an den Tag legt. Klaus ist sicherlich nicht mit Le Pen oder Haider vergleichbar. Es ist ihm aber gelungen, das Potenzial der extremen Rechten gering zu halten. Wenn mir jemand vor vier Jahren gesagt hätte, dass eines der Hauptthemen dieses Wahlkampfes die Benes-Dekrete sein werden, dann hätte ich getippt, dass die rechtsradikalen Republikaner aufgrund dessen ins Parlament zurückkehren. Heute sieht es dagegen so aus, dass die Republikaner höchstens ein Prozent der Stimmen erreichen. STANDARD: Warum haben die Abgeordneten der Koalition im April für die Parlamentsresolution zu den Benes-Dekreten gestimmt, obwohl Freiheitsunion und Christdemokraten ursprünglich strikt gegen diese Initiative von Zeman und Klaus waren? Mlynar: Das war taktisch motiviert. Entweder, so war unsere Einschätzung, beteiligen wir uns nicht an den Beratungen, und das Ergebnis ist ein radikaler Entwurf, oder aber wir nehmen von Beginn an an der Formulierung teil und haben somit Einfluss auf das Beschlossene. Wenn man den Text genau liest, kann man den Kompromiss gut erkennen. Ich hätte mir aber gewünscht, dass in die Resolution ein weiterer Punkt aufgenommen wird, nämlich dass das Parlament sein Bedauern über die Opfer ausdrückt, zu denen es während der Aussiedlung der Sudetendeutschen gekommen ist. Aber das war wiederum für die übrigen Parteien nicht annehmbar. STANDARD: Ist in die Beziehungen zwischen Tschechien und Österreich wieder Normalität eingekehrt? Mlynar: Die schlechten Beziehungen zu Österreich sind in meinen Augen der größte Fehler von Zemans Regierung in den vergangenen vier Jahren. Die tschechische Seite hat sich zu Beginn des Streites um das AKW Temelín außerordentlich arrogant und dumm benommen, denn sie hat alle Ängste und Vorbehalte der österreichischen Seite beiseite geschoben. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die aufgestauten Emotionen auf beiden Seiten jemand aufgreift - in Tschechien war es Premier Zeman, in Österreich Haider. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2002)