Die Schau mit dem ausufernden Überbau präsentiert sich konventionell. Kleinster gemeinsamer Nenner der wie üblich beliebigen Künstlerwahl ist der stets präsente erhobene Zeigefinger.

Seit Samstag kann man in Kassel eine Plattform betreten - die fünfte und letzte dieser elften Documenta, die sich so angestrengt hat, anders zu sein als ihre Vorgängerinnen, und doch in einer recht konventionellen Ausstellung gemündet ist. Da gibt es 118 Künstler höchst unterschiedlicher Berufsauffassung und Produkte. Wieder gilt es Besucherrekorde zu brechen, um nach den kommenden hundert Tagen der finalen Anstrengung ein kollektives Problembewusstsein zur Weltlage zu simulieren, den Stadtvätern eine saubere Abrechnung hinterlassen zu können.

Während die Vorhut der Weltkunstbetrachter sich durch die Previews drängelt, um hernach dann Wurstbrote beim Empfang des Oberbürgermeisters zu ergattern, unterstreichen Regenschauer den Charme von Hessens Zentrum. Noch beherrschen Unterkunftsnöte und Reiseanekdoten die Debatten beim Abendmahl im "Wolperdinger Brauhaus", beim "Caruso" oder im "Häschengrill".

Und nicht nur die dritte Welt ist weit weg in Kassel. Kaum sonst wo ist alles derart ordentlich. Kein Schlangestehen, kein Verirren, keine Pannen. Raus aus dem Fridericianum, kurz in die DocumentaHalle, rein in den Shuttlebus, rüber in die Binding-Brauerei, morgen Kulturbahnhof. Abreise. Passt! Halt, nicht die Kunst im öffentlichen Ram vergessen: In der Karlsaue unweit der Orangerie haben John Bock, Renée Green, Dominique González-Foerster und Ken Lum schüchterne Unterplattformen aufgestellt.

Sehr bedeutungsvoll

Ansonsten hat Documenta-Leiter Okwui Enwezor aufgeräumt: kein Logo, keine Symbole, keine skulpturale Kraftmeierei. Kassel ist diesmal eine Bildungsreise wert, ein Akademischer Dienst bittet zur Vertiefung. Der Überbau erscheint demnächst zum Nachlesen in Katalogen: Den (Diskussions-)Plattformen eins (in Wien) bis vier (in Lagos) ist je ein Buch gewidmet, gut 1200 Seiten Symposion für etwa 120 Euro. Die 620 Seiten um 55 Euro zur Plattform 5 nicht eingerechnet.

"Die Documenta 11 ist auch", sagt Okwui Enwezor, "ein Resultat ihrer gründlichen Analyse der schwierigen Aufgabe, etwas Bedeutungsvolles und Dauerhaftes zu erstellen." Irgendwann beim Nachdenken hat sich dann offenbar jeder Humor verabschiedet und in der Verkrampfung auch gleich die Sinnlichkeit. Kassel durchlebt eine korrekt eingeleitete Bedeutungsschwangerschaft. Das Beeindruckende soll alles das sein, was jeder einzelne Besucher nicht weiß. Die Konstruktion ist ein ausufernder Vorwurf. Die Weltkunstschau spielt Oberlehrer, rät, jedem unmittelbaren Eindruck, jeder möglichen Ausstrahlung zu misstrauen - vor allem der eigen Einschätzung. Dass dabei Kunst wie Künstler instrumentalisiert werden, scheint nicht weiter problematisch.

Die öde Landschaft, der Vorort, das Industriegebiet: Anlassfälle zur Weltdeutung. Der Körper - wenn überhaupt präsent - geschunden. Und steht ein persönliches oder gar globales Drama im Hintergrund, scheint jede auch noch so hoffnungslose Ästhetik gerechtfertigt: Chohreh Feyz-djous Materialschlacht um den inneren Frieden, Ivan Kozarics angerammeltes Atelier, Lisl Pongers Schnappschüsse des Sommers in Genua bzw. dem menschenentleerten Nachfeld der dortigen Antiglobalisierungsdemos.

Kompakte Dramaturgie

Shirin Neshats Pathos wird ebenso ins Unantastbare entrückt wie die Bedeutung von Tania Brugueras Kleinbühnendramturgie. Von Scheinwerfern geblendet, kann man ganz gefahrlos dem Klack von Repetiergewehren lauschen und sich dem gruseligen Geräusch zu Boden fallender Patronenhülsen ergeben.

Okwui Enwezors Ausstellung ist sicher kompakter als Harald Szeemanns wüste Geste vom letzten Sommer, halb Venedig für die Kunst zu vereinnahmen. Sie tut aber bloß so, als wäre sie weniger beliebig. Die Höhepunkte setzten durch die Bank bekannte Positionen: Leon Golub zeigt wie immer eindrucksvoll, dass eine politisch bewusste und engagierte ästhetische Praxis ganz ohne hülsenreichen Überbau sehr unmittelbar treffen kann, Ouattara Watts und Luc Tuymans sind längst etablierte Maler. Yinka Shonibare bringt die Problematik der Behauptung von Identität auch schon länger ebenso präzise wie amüsant auf den Punkt, wie Eija-Lisa Ahtilas Kurzspielfilme das Prädikat "documenta-tauglich" nicht nötig haben.

Eine der wenigen logischen Querverbindungen dieser Schau bietet das Nebeneinander der Architekturvisionen von Bodys Isek Kingelez, Yona Friedmann und Constant. Constant, vorwiegend als Maler und Mitbegründer der Gruppe Cobra bekannt, entwickelte von 1956 bis 1974 das Projekt New Babylon. Grundlage war die Vision, dass Automatisierung menschliche Arbeit überflüssig machen würde. In Unmengen von Modellen, Zeichnungen und Collagen entwickelte er Behausungssysteme für nomadisierende Kreative, die zum Zeitvertreib Wetter und Licht gestalten sollten.

Privatere Modelle entwirft der Niederländer Mark Manders: Selfportrait as a building. Darunter kann man sich so etwas wie Bruno Gironcoli für die Wallpaper-Generation vorstellen: Gironcolis Sehnsucht nach dem Geborgensein im Mutterleib ersetzt das Zuhaus in der schlotbestückten Fabrik. Ansonsten ist einiges zu unbekanntem Zweck miteinander verkabelt, basiert auf rätselhaften Zahlenkombinationen oder steht in irgendeinem Zusammenhang mit totem Kleingetier. Manders hermetische Privatästhetik ist paradoxerweise im Kontext dieser Schau befreiend.

Es wird nicht vorausgesetzt, dass man im Katalog nachschlagen muss, wie ein Inuit traditions- wie fachgemäß einen Eisbären erlegt, tranchiert und zubereitet. Und auch nicht, wie der Inuit heißt.


(DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2002)