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Martin Walser, Freiwild des Großfeuilletons

Foto: APA/dpa/ Patrick Seeger
In Walter Benjamins Einbahnstraße steht ein kleines Stück, Reise in die deutsche Inflation . Es ließe sich auch eine "Reise in den Antisemitismus" vorstellen, aber sie sollte nicht auf den Einbahnstraßen erfolgen, die derzeit vorgegeben werden. Martin Walser ist eine Art Freiwild geworden. Er greift, wie ich sein Buch Tod eines Kritikers verstehe, im Kritiker aber nicht die Juden oder den Juden an, und keiner wird getötet oder dazu aufgefordert, zu töten. Es geht um Machtübergriffe, von wem immer. Verständlich ist es trotzdem, dass, wer früh zum "Abschaum" gezählt hat, hier empfindlich bleibt: Frühe Verletzungen heilen nur im Glücksfall und springen gerade spät wieder auf, auch bei Marcel Reich-Ranicki. Aber mit dem Wort "Antisemitismus" sollte man sparsam umgehen. Um das Wort für sich selbst zu verstehen: Was ist eigentlich das Gegenteil von Antisemitismus? Eine Daseinsform, die dem Wort keinen Kontext gibt. Und keine Basis. In Wien, wo meiner Schwester und mir ein halbes Jahr vor Schulbeginn die Bemerkung: "Das sind Juden" an den Kopf flog und wo zum Vorrat des Wiener Argots die Schimpfwörter "Jude, Semit, Hebräer" gehörten, war der Antisemitismus eine bürgerliche Lebensform. In Österreich ist der Antisemitismus an Gasthaus-und Familientischen noch immer so selbstverständlich, dass es von hier aus eigenartig wäre, im Buch eines nie zuvor antisemitischen deutschen Intellektuellen nach diesbezüglichen "Stellen" zu suchen. Da hoffentlich nicht nur ich dazu neige, Irritationen, Gerüchte und ihre Details aus ihren Landschaften zu begreifen und so spät wie möglich global zu werden, ließe ich diese Diskussion in dem Umfeld, aus dem sie kam. "Ich brauche charakteristische Details", schreibt Thomas Mann an Adorno. Die braucht man bei jeder Diagnose. Wie verdeckt und wie mörderisch solche fast unausdenkbaren Details werden können, beleuchtet ein frühes Detail: Kurz vor Ferienbeginn begann meine Schwester zu fiebern und wurde in die Kinderklinik - damals "Pirquet-Klinik nach Clemens Pirquet - eingeliefert und nach sechs Wochen wieder entlassen. Sie erzählte vom Glück: eine Menge Scharlachkinder, Jungen und Mädchen, ein großer Saal, erträgliche Krankenschwestern, und der Star der Szene, der Oberarzt. Ich wollte hin. Eine Nacht lang legte ich mich zu meiner Schwester ins Bett. Am nächsten Abend wurde ich im Krankenwagen in die Klinik eingeliefert. Sie gehörte zu den wenigen Paradiesen, die nicht so schnell enttäuschen: Dreißig Kinder, viel Lärm, viel Spielzeug, wenige Krankenschwestern. Gleich darauf die Visite. Der Oberarzt mit sieben Unterärzten. Seinen Namen kannte ich, und er sah aus wie sein Name: Charismatisch, zugewandt, und als hätte er genug Zeit. Er ließ sich einiges berichten und untersuchte nur wenige: am längsten und intensivsten eine Elfjährige und ihren großen Bruder. Man konnte sie durch eine Glaswand sehen. Der Doktor und seine Bewegungen wirkten durch das Glas gezielt und fast grob. Den Namen der Geschwister hörte ich nie mehr, den des Doktors noch einmal: In einer Tageszeitung stand nach Kriegsende eine kurze Notiz: "Dr. Erwin Jekelius" sei in einem sibirischen Lager tot aufgefunden worden. Er war zwei Jahre nach dem Ende des Krieges wegen der Ermordung von vielen Kindern und unzähligen medizinischen Versuchen, vor allem an Geschwistern, dort gelandet. "Artengleichheit" war das Spezialfach, mit dem er Karriere gemacht hatte. Er hatte sich antisemitisch spezialisiert. Das lässt die augenblickliche Auseinandersetzung im Literaturbetrieb noch absurder erscheinen. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.6.2002)