In Kalifornien geht das Licht aus, in Großbritannien entgleisen die Züge, und womöglich gibt es bald kein Internet mehr, das uns mit diesen Hiobsbotschaften aus der Welt der Deregulierungswut und der ungehemmten Marktwirtschaft versorgen könnte. Der Konkurs des Kabelnetz-und Internetproviders mit dem unaussprechlichen New-Economy-Namen KPNQwest, einer der größten Netzbetreiber Europas, zeigt die Abhängigkeit unseres Alltagslebens vom Internet - und er zeigt die Risiken, die mit einem weitgehend freien Markt verbunden sind. Sorge ist angebracht, aber in Panik braucht man darüber nicht zu verfallen. Tatsächlich könnte ein Betriebsausfall des Netzes, das rund ein Fünftel des Datenverkehrs und einen nicht unerheblichen Teil unseres Telefonverkehrs befördert, ganz gravierende Störungen nach sich ziehen. Wirklich voraussagen lassen sich die Auswirkungen ebenso wenig wie seinerzeit beim Jahr-2000-Bug, dem die Welt entgegenfieberte und der nicht einmal für einen leichten Schnupfen sorgte. Das Internet - einst eine Kommandostruktur, um im Falle des atomaren Wahnsinns letzte Befehle erteilen zu können - ist zweifelsohne robust; aber es wurde nicht für die Aufgaben konzipiert, die wir ihm heute zumuten, vom Büchereinkauf bei Amazon und der Buchung der nächsten Urlaubsreise bis zur Übertragung der Fußball-WM. Nötige Erfahrung So gesehen wäre ein teilweiser Netzausfall eine vielleicht nötige Erfahrung, um Schwachstellen der praktisch über Nacht aus dem Boden geschossenen Infrastruktur beseitigen zu können. Solche Erfahrungen werden uns früher oder später nicht erspart bleiben, wenn das Internet ähnlich verlässlich werden soll, wie wir dies von Strom oder Telefonie zu Recht erwarten. Schließlich brauchte es fast ein Jahrhundert, um diese Techniken weitgehend ausfallssicher zu machen. Zur weitgehenden Ausfallssicherheit gehört aber auch die dahinter stehende wirtschaftliche Struktur und Regulierung durch den Staat, die beim Internet heute praktisch null ist. Wenn Finanzsysteme in Bedrängnis geraten, interveniert in letzter Instanz der Staat, um bedrohliche Zusammenbrüche zu verhindern, und das hat seine Richtigkeit, auch wenn man über den jeweiligen Zeitpunkt dafür streiten kann. Bei Infrastrukturen wie Energie, Telefon und öffentlichem Verkehr geht es heute in die andere Richtung: Der Staat zieht sich schrittweise aus seinen einstigen Monopolen zurück, deren Funktionieren er bisher (in unterschiedlicher Qualität) garantierte. Das kann zu Pannen führen, oder es kann auch schlecht geregelt werden (wie bei der Energieversorgung in Kalifornien) - aber Systemwechsel wie der Schritt von Infrastruktur in öffentlichem Besitz zu Infrastruktur in Privatbesitz und unter öffentlicher Regulierung brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Praktisch unreguliert Internet ist heute praktisch unreguliert, obwohl staatsnahe Strukturen weiterhin involviert sind. Der heimische Internetverkehr etwa läuft über "Vix", den Vienna Internet Exchange, der aus der Zeit stammt, als Unis die Hauptbetreiber des Netzes waren. Der jetzige Großkonkurs sollte Anlass genug sein, die völlige Abstinenz des Staates zu prüfen. Derzeit kann praktisch jeder Internetprovider sein; möglicherweise sollte es, wie bei Telekomunternehmen, eine Art Bonitätsprüfung geben oder Mindeststandards der Versorgung definiert werden, auf die Benutzer Anspruch haben; bei Nichterfüllung würde die Berechtigung entzogen. Aber zu Recht warnt Österreichs Telekomregulator Heinrich Otruba vor einer Überreaktion. Sein Argument: Schließlich sei auch der Lebensmittelhandel nicht vom Staat garantiert, warum also sollte der Staat einspringen, wenn es im Zuge eines Konkurses (ein staatliches Regulativ) zu vorübergehenden Schwierigkeiten kommt. Der freie Markt hat also Risiken und Nebenwirkungen - so wie auch verstaatlichte Strukturen davon nicht frei sind. Mit dieser Unsicherheit werden wir leben müssen. (DER STANDARD, Printausgabe 4.6.2002)